Mord am Oxford-Kanal
andere Paar) waren jetzt fertig und
konnten in der Grove Street abgeholt werden, die Kraftfahrzeugsteuer war in den
nächsten drei Wochen fällig, Oxford University Press hatte ihm geschrieben, um
ihm mitzuteilen, daß ein lächerlich teures Buch mit dem Titel «Die Übertragung
klassischer Manuskripte» für ihn eingetroffen sei, vom Klempner war eine
Mahnung gekommen, die Rechnung für die Reparatur des defekten Absperrhahns zu
bezahlen, die Wagner-Gesellschaft fragte an, ob er an der Verlosung der Karten
für Bayreuth teilnehmen wolle, und Peter Imbert hatte ihn eingeladen, im
nächsten Jahr auf einem Wochenend-Symposion in Hendon einen Vortrag zu halten zum
Thema «Die Entwicklung der Kriminalität in den Großstädten». Die Post bot eine
Art Querschnitt seines täglichen Lebens, dachte er, auch was die Verteilung von
Positivem und Negativem anging — eben so halbe-halbe.
Um zwanzig nach acht beugte
sich Lewis vor und erkundigte sich, ob er noch irgend etwas für Morse tun
könne.
«Ja, Lewis», sagte Morse
entschlossen. «Gehen Sie, bitte. Ich möchte nämlich noch fünf Minuten ungestört
reden können...» Er deutete mit dem Kopf in Richtung auf das Nachbarbett, wo
Christine Greenaway sich leise mit ihrem Vater unterhielt.
«Wenn das alles ist, was ich
für Sie tun kann... Sir.» Lewis stand langsam auf.
«Ja, ich habe mich wohl
deutlich genug ausgedrückt, oder?»
Lewis holte eine große Traube
weißer, kernloser Weintrauben (das Kilo zu fünf Pfund) aus seiner Tragetasche.
«Ich dachte... Wir dachten, meine Frau und ich... Also, wir meinten, daß Sie
vielleicht Appetit auf etwas Obst hätten...»
Gleich darauf war er gegangen,
und Morse wußte, kaum daß er weg war, daß er sich sein rüdes Verhalten lange
vorwerfen würde. Aber geschehen ist geschehen: nescit vox missa reverti.
Zwei Minuten später ertönte der
Gong, der das Ende der Besuchszeit signalisierte, und Christine Greenaway kam
herüber an Morses Bett und reichte ihm sechs große Fotokopien.
«Ich hoffe, dies ist, was Sie
wollten.»
«Ich bin Ihnen sehr, sehr
dankbar. Schade, daß wir heute abend keine Gelegenheit hatten...»
«Aber das verstehe ich doch,
wirklich», sagte sie. «Und Sie lassen es mich wissen, wenn ich sonst noch etwas
für Sie tun kann?»
«Hören Sie... vielleicht
könnten wir...»
«Kommen Sie jetzt, bitte!» Der
Ton der Stationsschwester klang, wie sie jetzt mit energischen Schritten die
Reihe der Betten entlangging, kaum weniger gebieterisch als die von Nessie,
dachte Morse.
«Ich bin Ihnen sehr dankbar»,
wiederholte er. «Bitte, glauben Sie mir. Und ich bedauere es
außerordentlich...»
«Aber ja», sagte Christine
sanft.
«Sind Sie morgen auch wieder
hier?» fragte Morse.
«Nein, morgen nicht. Wir
bekommen Besuch von einer Gruppe von Bibliothekaren aus Kalifornien...»
«Würden Sie jetzt bitte gehen!»
Mrs. Green, Sergeant Lewis,
Christine Greenaway — sie alle waren gegangen, und schon hatte man den kleinen
Wagen mit der Medizin hereingerollt, und die Schwestern begannen ihre
abendliche Runde.
Morse fühlte sich todeinsam.
Es war schon fast halb zehn,
als er sich endlich die Fotokopien durchsah, die Christine Greenaway
mitgebracht hatte. Es dauerte nicht lange, da hatte seine Lektüre ihn ganz gefangengenommen,
und seine Verzagtheit von vorhin war wie weggeblasen.
Kapitel 14
Unter
den Lebenden zu sein war ein Privileg an sich, denn unzählige andere — die
eigenen Brüder und Schwestern — waren auf der Strecke geblieben, waren gleich bei der Geburt gestorben
oder noch im Säuglingsalter oder in der Kindheit.
Roy
und Dorothy Porter, In Gesundheit und Krankheit
Die fotokopierten Unterlagen,
die er in Händen hielt, dachte Morse, würden, seit man vor einigen Jahren dazu übergegangen
war, im Geschichtsunterricht der Mittel- und Oberstufe vor allem mit Quellen zu
arbeiten, jeden Geschichtslehrer, der mit der viktorianischen Periode befaßt
war, in Entzücken versetzen. Selbst er fand ja die Unterlagen außerordentlich
faszinierend, dabei war es bei seinem Examen im Fach Geschichte (er hatte mit
Auszeichnung bestanden) noch völlig ausreichend gewesen, oberflächliche
Kenntnisse über die ersten, im späten 18. Jahrhundert auftauchenden Sämaschinen
und andere frühe landwirtschaftliche Maschinen zu besitzen. Besonders berührt
hatte Morse das Vorwort zum «Führer durch das Versicherungswesen. Ein Handbuch
für das Jahr 1860» (ein Hoch auf Christine
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