Mord am Oxford-Kanal
Zeit, ehe er sich —
wenn auch nur in der Phantasie — der wollüstigen Schönen bemächtigen konnte.
Und so verwandelte sich die kurvenreiche Sirene in Morses nun doch schon etwas
verwirrtem Geist in Joanna Franks, wie sie in einer lauen Juninacht des Jahres
1859 mit aufreizendem Hüftschwung in Richtung Duke’s Cut geschritten war.
Als er am nächsten Morgen
aufwachte (oder, genauer gesagt, geweckt wurde), fühlte er sich wunderbar
frisch und beschloß, nicht noch ein drittes Mal das Risiko einzugehen, beim
Lesen des Blauen Billetts erwischt zu werden. Nachdem er gefrühstückt
und die übliche Prozedur des Fiebermessens, Waschens und der Tabletteneinnahme
geduldig über sich hatte ergehen lassen, griff er nach dem Buch des Obersten,
um endlich zu erfahren, was der jungen Frau, die seine nächtliche Traumwelt
beherrscht hatte, nun eigentlich zugestoßen war.
Kapitel 15
TEIL
DREI - EIN SICH HINZIEHENDER PROZESS
Die Leiche von Joanna Franks
wurde am 21. Juni gegen halb sechs Uhr morgens im Duke’s Cut gefunden. Philip
Tomes, ein Bootsführer, gab an, daß er, während er kanalabwärts in Richtung
Oxford unterwegs gewesen sei, im Wasser etwas habe treiben sehen, das er
zunächst für ein Frauenkleid gehalten habe, denn im dunklen Wasser sei es
schwierig gewesen, etwas Genaues zu erkennen. Beim Näherkommen jedoch habe er
dann festgestellt, daß es sich um die Leiche einer Frau handelte. Sie befand
sich auf der dem Treidelpfad gegenüberhegenden Seite des Kanals und trieb
parallel zur Böschung, den Kopf nach Norden, die Füße südwärts gerichtet und
völlig regungslos. Sie habe mit dem Gesicht, das schwarz verfärbt schien nach
unten gelegen, und trug weder Hut noch Schuhe. Tomes ließ stoppen und zog die
Leiche mittels eines Bootshakens behutsam in Richtung Treidelpfad. Am Ufer
angekommen, hob er sie, unterstützt von einem Fischer aus Kidlington, einem
Mann namens John Ward, der zufällig schon so früh des Morgens unterwegs war, an
Land. Der Umsicht von Ward ist es übrigens zu verdanken, daß die Leiche
unverzüglich ins nahegelegene Wirtshaus Plough Inn in Wolvercote gebracht
wurde.
Die verschiedenen
Zeugenaussagen (ungeachtet der Tatsache, daß dazu natürlich auch die Angaben
der Angeklagten zählen) erlauben den Schluß, daß Oldfield und Musson (und laut
einer Aussage auch Towns) an ungefähr der Stelle, wo Joanna den Tod fand, von
Bord der Barbara Bray gegangen waren. Mehrere Zeugen hatten gesehen, wie
sie etwas unterhalb von Duke’s Cut zusammen auf dem Treidelpfad gestanden hatten.
Zur mutmaßlichen Todesstunde von Joanna, also gegen vier Uhr früh, sei — so die
Aussage der Schiffer — ein Mann den Treidelpfad heraufgekommen. Sie hätten ihn
angehalten und ihn gefragt, ob ihm unterwegs eine Frau begegnet sei. Der Mann
habe verneint und sei gleich weitergegangen, obwohl sie versucht hätten, noch
mehr aus ihm herauszubekommen.
(Es ist wohl ziemlich klar, daß
die Aussage dieses Mannes die alles entscheidende Bestätigung für die Angaben
der Angeklagten hätte sein können. Er war jedoch später nicht mehr aufzufinden,
obwohl alle Anstrengungen dazu unternommen wurden. Tatsächlich war ein Mann,
auf den die Beschreibung der drei Schiffer ungefähr zutraf, ein gewisser Donald
Favant, am 20. oder 21. Juni im Nag’s Head in Oxford abgestiegen, doch verschwand
er, ohne eine Spur zu hinterlassen. So bleibt bis heute der Verdacht, daß die
ganze Geschichte nichts war als ein letzter verzweifelter Versuch der Schiffer,
sich zu entlasten.)
Jonas Bamsey, Kaimeister bei
der Oxforder Kanalbehörde und zuständig für den Kai und die Lagerräume in
Hayfield, gab vor Gericht an, daß die Barbara Bray einen Teil ihrer
Ladung dort gelöscht habe, Oldfield jedoch keine Meldung erstattet habe, daß
ihm ein Passagier abhanden gekommen sei, wie es ganz eindeutig seine Pflicht
gewesen wäre. Die Schiffer hatten jedoch, wenn man den an diesem Punkt sehr
spärlichen und auch etwas verworrenen Aussagen Glauben schenken darf, mit ein
paar alten Bekannten in der Upper Fisher Row über Joanna Franks’ Verschwinden
gesprochen. Sie hatten erzählt, daß sie eine verrückte Frau an Bord gehabt
hätten, die vermutlich Selbstmord begangen habe, und daß sie sie zuvor bereits
einmal gerettet hätten, als sie versucht habe, sich kurz nach Preston Brook von
Bord zu stürzen und zu ertränken.
An demselben verhängnisvollen
Tag, etliche Stunden später, als die Barbara Bray die Schleusen
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