Mord am Oxford-Kanal
sie jemals wieder heiraten würde, dann würde es jemand
sein müssen, den sie respektieren konnte: für seine Art, Gespräche zu führen
etwa oder für seine Erfahrung oder für seinen Intellekt oder seine Kenntnisse
oder sein — nun, was auch immer, solange er sich nicht ausgerechnet auf seine
Potenz das meiste zugute hielt. Und was, so fragte sie sich, hatte das alles
nun mit ihm zu tun? Er sah nicht einmal besonders gut aus. Sein Haar war
schon sehr gelichtet, und er schleppte etliche Kilo Übergewicht mit sich herum.
Obwohl — wenn sie ehrlich war, mußte sie sich eingestehen, daß sie seit einigen
Jahren beinahe so etwas wie Bewunderung empfand für Männer mit ein paar Pfund
zuviel. Das lag wahrscheinlich daran, daß sie selbst überhaupt nicht zunahm,
auch wenn sie noch soviel fritierten Fisch mit Chips und hinterher Sahnetorte
aß.
Sie kam am Balliol- und
Trinity-College vorbei, überquerte kurz vor der Buchhandlung Blackwell die
Straße und schritt, sub imperatoribus, die halbmondförmige Treppe zum
kiesbestreuten Hof des Sheldonia-Theaters hinauf. Und die ganze Zeit über
ermahnte sie sich, den Mann, der sie gestern abend im John-Radcliffe
angesprochen hatte, doch endlich zu vergessen, aber es gelang ihr nicht. Sie
wandte sich nach rechts, durchschritt den Torbogen mit dem Schild WIR BITTEN
RUHE ZU HALTEN und gelangte so schließlich auf ihr vertrautes Gelände — den Hof
des Prüfungsamtes der Universität Oxford.
Als sie vor sechs Jahren
angefangen hatte, in der Bodleian Library zu arbeiten, war sie sich während der
ersten Wochen noch täglich der Anmut ihrer Umgebung bewußt gewesen. Im Laufe
der Jahre jedoch war ihr der Anblick dessen, was auf den Postkarten, die im
Proscholium verkauft wurden, das «goldene Herz Oxfords» genannt wurde, so
vertraut geworden, daß sie kaum noch hinsah. Gewöhnlich überquerte sie den Hof,
ohne den Tower of the Five Orders zu ihrer Linken oder die Bronzestatue
des dritten Grafen von Pembroke auch nur eines Blickes zu würdigen, bevor sie
durch das große Eingangstor im Westflügel die Bibhothek betrat.
Doch heute war alles anders —
ganz anders! Deutlich wie schon lange nicht mehr spürte sie plötzlich wieder
unter den Sohlen ihrer hochhackigen Lederpumps die scharfen Kanten der
Kieselsteine, und mit beinahe überschwenglicher Freude war sie sich unversehens
wieder der gemalten Schriftzüge über den vertrauten Türen bewußt, die die
verschiedenen Fakultäten bezeichneten. Voller Aufmerksamkeit betrachtete sie
die kunstvollen Buchstaben ihrer Lieblingsinschrift: SCHOLA NATURALIS
PHILOSOPHIAE. Die vergoldeten Großbuchstaben waren an den Rändern rötlichbraun
gegen den tiefblauen Hintergrund abgesetzt. Als sie die Holztreppe zum unteren
Lesesaal emporstieg, sann sie mit einem leisen Lächeln darüber nach, woran es
wohl lag, daß ihr gerade heute die Schönheit ihrer Umgebung wieder neu
aufgegangen war.
Sie hängte ihren Mantel in die
Garderobe und wandte sich dann ihren Pflichten zu. Ihre erste Aufgabe morgens
war es immer, die am Tage zuvor auf den Tischen hegengebliebenen Bücher wieder
in die Regale zurückzuräumen, so daß die bald eintreffenden Bibliotheksbenutzer
die von ihnen gesuchten Bücher wieder am richtigen Standort vorfinden würden.
Sie mochte diese Arbeit nicht besonders, sie war langweilig und monoton.
Während sie von Arbeitstisch zu Arbeitstisch ging und die Bücher einsammelte,
rief sie sich noch einmal das kurze Gespräch in Erinnerung, das sie gestern
abend im John-Radcliffe geführt hatte. Der Mann in dem Bett gleich rechts neben
dem ihres Vaters hatte ihr zuerst höflich zugenickt, bevor er sie angesprochen
hatte:
«Sie arbeiten in der Bodleian
Library, habe ich gehört?»
«Mhm.»
«Ich hoffe, Sie finden mich
nicht allzu unverschämt, aber ich möchte Sie bitten, ob Sie wohl etwas...»
«Ob ich wohl etwas für Sie
nachschlagen könnte?»
Morse hatte genickt und ihr
gewinnend zugelächelt.
Sie wußte, daß er bei der
Polizei arbeitete — so etwas sprach sich immer schnell herum. Er hatte sie
einen Augenblick lang direkt angesehen, doch hatte sie weder die Farbe seiner
Augen bemerkt noch eine gewisse Strenge, die gewohnheitsmäßig in seinem Blick
lag. Ihr war der Ausdruck aufgefallen, den sie als melancholisch und sehr
verletzlich empfunden hatte. Doch gleichzeitig hatte sie gespürt, daß der Blick
dieser Augen tief in ihr Inneres zu dringen schien und daß er gemocht hatte,
was er sah.
«Du bist eine dumme Kuh»,
schalt sie
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