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Mord am Oxford-Kanal

Mord am Oxford-Kanal

Titel: Mord am Oxford-Kanal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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nirgendwo in Sicht,
ihr Schreibtisch war verwaist. Morse fiel auf einmal ein, daß er geträumt
hatte. Es war ein unangenehmer Traum. Er war wieder Gymnasiast gewesen, sie
hatten Kricket gespielt; als er an der Reihe gewesen war, den Ball zu schlagen,
hatte er plötzlich seine Schuhe nicht finden können, und als er sie dann
endlich hatte, ließen sie sich nicht zuschnüren, und er war kurz davor gewesen,
in Tränen auszubrechen... Da war er aufgewacht. Ob Mrs. Green mit ihrer
«Schiropodistin» etwas mit dem Traum zu tun hatte, oder vielleicht die Benachrichtigung
des Schusters, der ihm mitteilte, er könne seine Schuhe nun abholen? Oder
keines von beiden, sondern vielmehr eine junge Frau, die in einer Nacht des
Jahres 1859 in Angst und Verzweiflung ausgerufen hatte: «Was habt ihr mit
meinen Schuhen gemacht?»
    Er spähte in Richtung Tür:
Nessie saß noch immer nicht hinter ihrem Schreibtisch.
    Es würde doch das Wohlbefinden
seiner Mitpatienten wohl kaum beeinträchtigen, wenn er seine Nachttischlampe
anmachte, oder?
    Es war gewiß unwahrscheinlich,
daß er das Wohlbefinden der Schwester gefährdete, wenn er seine Schwenklampe
anmachte. Zumal wenn ihr Strahl nur einen kleinen Lichtfleck auf sein Kissen
warf. Nein! Es würde niemanden stören, wenn er ein Buch las. Und der kranke
Mann hatte seine Lampe schließlich die ganze Zeit angehabt.
    Er drückte den Knopfschalter
und machte seine Lampe an, ohne daß sich jemand rührte; und immer noch keine
Spur von Nessie. Teil Drei von Mord am Oxford-Kanal wartete auf ihn;
doch Morse zögerte, das Buch zu rasch zu Ende zu lesen. Er erinnerte sich, wie
er, als er vor kurzem Bleakhouse gelesen hatte (für ihn immer noch der
größte englische Roman), die Lektüre bewußt verzögert hatte, als die Seitenzahl
immer mehr abnahm. Niemals hatte er sich so gewünscht, die Geschichte möge
weitergehen! Das Werk des Colonels war zwar nicht von der Art, sie an Poesie zu
übertreffen, und doch wollte Morse die Lektüre in die Länge ziehen — sagte er
sich jedenfalls. Was ihm die nicht unangenehme Möglichkeit offenließ, noch ein
paar Kapitel von Das blaue Billett zu lesen — wo Mr. Greenaway jetzt
fest schlief. Das Verbrechen im Shropshire des 19. Jahrhunderts war bereits zu
einem der vielen aussichtslosen Fälle geworden.
    Morse hatte sich rasch in die
Heldentaten einer Blondine vertieft, die auf ihren schwarzen Strümpfen gern
nach Norden zeigende Pfeile mit der Aufschrift «Zum Schlüpfer hier entlang» —
das heißt, wenn sie zu diesem Zweck überhaupt Strümpfe und Schlüpfer trug. Und
so kam es, daß Morse inmitten zur Schau gestellter Leiber, betatschter Busen
und aufgenestelter Knöpfe eine kurze Zeit angenehm erotischen Vergnügens
verbrachte. Tatsächlich war er so vertieft, daß er ihr Näherkommen nicht
bemerkte.
    «Was treiben Sie da?»
     
    «Ich wollte nur...»
    «Die Lichter haben um zehn Uhr
aus zu sein. Sie stören doch Ihre Mitpatienten.»
    «Aber die schlafen doch alle.»
    «Nicht mehr lange — so wie Sie
sich verhalten!»
    «Ich bitte um Entschuldigung.»
    «Was lesen Sie denn da?»
    Bevor er es verhindern konnte,
hatte Nessie sich das Buch geschnappt, und er konnte nur hilflos zusehen, wie
sie die erste Seite auf schlug und zu lesen begann. Sie gab ihm das Buch ohne
Kommentar zurück, und Morse meinte sogar, in ihren strengen Augen ein
amüsiertes Funkeln gesehen zu haben.
    «Sie sollten jetzt versuchen zu
schlafen», sagte sie — nicht einmal unfreundlich. Ihre präzise Stimme paßte
perfekt zu ihrer gestärkten Tracht, und Morse verstaute das unglückselige Buch
gehorsam in seinem Nachttisch. «Und denken Sie daran, hier oben steht noch ein
Obstsaft!» Sie schob das halbvolle Glas ein wenig beiseite, löschte dann die
Nachttischlampe und ging. Morse ließ sich genüßlich von der Wärme und
Geborgenheit seines Bettes umfangen, ähnlich Tennysons Lilie, wie sie langsam
auf den Grund des Sees gleitet...
    Diese Nacht träumte er in Farbe
(er war bereit, das zu beschwören!), obwohl er wußte, daß die Wissenschaft die
Existenz farbiger Traumbilder glattweg bestritt. Er aber bestand darauf, daß er
eine braunhäutige, spärlich bekleidete Schönheit gesehen hatte, die schwarze,
mit Pfeilen verzierte Nylons getragen hatte, und er konnte sich sogar noch an
ihre lavendelfarbige Unterwäsche erinnern. Es war der perfekte Traum gewesen.
Oder doch fast perfekt. Denn irgend etwas in Morse verlangte beharrlich einen realen Namen und einen realen Ort und eine reale

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