Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mord am Oxford-Kanal

Mord am Oxford-Kanal

Titel: Mord am Oxford-Kanal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
Vom Netzwerk:
leise.
     
     
    Christine Greenaway stand auf,
um zu gehen, und Morse realisierte plötzlich, als er sie so dicht neben sich
sah, wie klein sie war, trotz der hochhackigen Schuhe, die sie immer trug. Ihm
fiel wieder ein, was er vor ein paar Tagen in Denistons Bericht gelesen hatte:
<...sehr zierliche und attraktive Erscheinung. Sie trug bei ihrem Aufbruch
ein dunkelblaues Kleid...>
    «Wie groß sind Sie eigentlich?»
fragte er.
    «Sie meinen, wie klein?» Sie
sah ihn aus blitzenden Augen kampfeslustig an. «In Strümpfen bin ich genau
einen Meter vierundfünfzig groß. Aber normalerweise trage ich hochhackige
Schuhe, dann bin ich so einen Meter sechzig.»
    «Und welche Schuhgröße haben
Sie?»
    «Fünfunddreißigeinhalb. Sie
würden Ihnen kaum passen.»
    «Ich habe gar nicht so
besonders große Füße», sagte Morse ernsthaft.
    «Ich glaube, ich sollte mir
Heber Gedanken machen über die Gesundheit meines Vaters, als mir anzuhören, was
Sie mir über Ihre Füße zu erzählen haben», flüsterte sie mit einem
verschwörerischen Lächeln und strich ihm mit der rechten Hand über den Arm.
Morse hielt ihre Hand ganz leicht fest, und beide standen einen Moment lang wie
unter einem Zauber.
    «Und Sie werden es für mich
nachsehen...?» fragte er schließlich.
    «Ich werde bestimmt daran
denken.»
    Sie drehte sich um und ging,
und nur der Hauch ihres teuren Parfüms, der noch in der Luft, hing, erinnerte
an sie.
    «Ich überlege gerade», sagte
Morse beinahe geistesabwesend, nachdem Lewis Christine Greenaways Platz an
seinem Bett eingenommen hatte, «ich überlege gerade, welche Schuhgröße Joanna
Franks wohl gehabt hat. Falls es damals so etwas gab wie Schuhgrößen.
Vielleicht ist das ja auch erst eine moderne Erfindung, so wie die
schrecklichen Strumpfhosen. Was meinen Sie, Lewis?»
    «Wenn Sie wollen, Sir, so zeige
ich Ihnen ihre Schuhe, dann können Sie selbst schätzen, welche Größe sie wohl
gehabt hat.»
     
     
     

Kapitel 25
     
    Wer
unfähig ist, große Verbrechen zu begehen,
    argwöhnt
sie auch nicht bei anderen.
     
    La
Rochefoucauld, Maximen
     
     
    Morse stand bei seinen Kollegen
in dem Ruf, eine überdurchschnittliche Intelligenz zu besitzen, eine
Intelligenz, die sich weniger im alltäglichen Leben zeigte, die ihm aber bei
der Aufklärung von Verbrechen einen immensen Vorsprung sicherte. Doch wenn er
auch mit großen mentalen Fähigkeiten ausgestattet sein mochte, eine Begabung
war ihm versagt geblieben, nämlich schnell lesen zu können. So brauchte er auch
an diesem Abend, als er endlich gegen neun Uhr Ruhe dazu hatte — Christine
Greenaway und Lewis waren längst gegangen, er hatte brav seine abendliche
Malzmilch getrunken, die Medikamente geschluckt und sich seine Spritze ‘geben
lassen —, ziemlich lange, bis er die Fotokopien der relevanten Spalten aus Jackson’s
Oxford Journal zu Ende studiert hatte. Christine hatte ihm allerdings
nichts davon gesagt, daß sie, unzufrieden mit den von ihr angefertigten
Mitschriften, am frühen Nachmittag noch einmal in die Bibliothek zurückgekehrt
war. Von ihrer Bekannten an der Auskunft war sie an der Schlange der Wartenden
vorbeigeschleust worden und hatte direkt aus den schweren, unhandlichen
Folianten, in die die einzelnen Jahrgänge jeweils zusammengefaßt waren, die ihr
wichtig erscheinenden Abschnitte kopiert. Aber hätte er gewußt, wie sehr sie
sich abgemüht hatte, hätte Morse es zur Kenntnis genommen — mehr nicht. Denn
einer seiner Charakterfehler war, Engagement für seine Ziele
stillschweigend vorauszusetzen, ohne sich jemals klarzumachen, welche Opfer das
den Leuten in seiner Umgebung manchmal abverlangte.
    Als Junge war er bei mehreren
Gelegenheiten zu antiken Ausgrabungsstätten geschleppt worden, doch es war ihm
unmöglich gewesen, die leidenschaftliche Begeisterung nachzuempfinden, die
manche Leute dazu trieb, stundenlang andächtig vor einem zerbröckelnden Gemäuer
aus der Römerzeit zu verharren. Ganz zu schweigen davon, daß er diese
Begeisterung etwa hätte teilen können. Schon damals war es das geschriebene
Wort, nicht das konkrete Artefakt gewesen, das seine Neugier gereizt hatte, so
daß er, wenn auch auf Umwegen, doch noch zu einem begeisterten Kenner der Antike
geworden war.
    Morses Desinteresse gegenüber
antiken Gegenständen jedweden Alters einmal vorausgesetzt, hätte man deshalb
leicht Voraussagen können, daß Lewis’ ungewöhnliche Entdeckung im Präsidium von
St. Aldates, obwohl der bisher einzige und noch dazu

Weitere Kostenlose Bücher