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Mord am Oxford-Kanal

Mord am Oxford-Kanal

Titel: Mord am Oxford-Kanal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colin Dexter
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Musik... Musik finde ich eigentlich manchmal noch schöner.»
    «Das heißt, wenn Sie lesen und
legen sich dazu eine Platte auf...»
    «Beides zusammen geht nicht.»
    «Aber lesen oder Musik hören,
eines von beiden ist das Schönste, was Sie sich vorstellen können?»
    «Abgesehen mal von einem Diner
mit Kerzenlicht — wenn jemand wie Sie mir gegenübersäße...»
    Eileen errötete.
    Bevor er an diesem Abend
einschlief, genehmigte sich Morse noch einen kleinen Whisky, und während er ihn
langsam, Schluck für Schluck genoß, schien die Welt auf einmal gar kein so
unerträglicher Ort...
     
     
    Als er am nächsten Morgen
aufwachte (oder, genauer gesagt, geweckt wurde), es war Sonntag, wunderte er
sich sehr, daß die Erkenntnis, was damals, 1859, am Kanal wirklich passiert
war, so lange hatte auf sich warten lassen. Gewöhnlich war doch die Geschwindigkeit,
mit der er eine Analyse der Zusammenhänge erstellte, vergleichbar dem
sprichwörtlichen Lidschlag einer Eidechse — bildete er sich jedenfalls ein.
     
     
     

Kapitel 26
     
    Es
gibt ein Gesetz, im dunkelsten der Bücher des Lebens, und das lautet: Du kannst
eine Sache neunhundertneunundneunzig mal ansehen, und dir wird nichts
geschehen, aber beim tausendsten Mal gerätst du in die schreckliche GeFahr, sie
zum ersten Mal zu erblicken.
     
    G.
K. Chesterton, Der Napoleon von Notting Hill
     
     
    Morse konnte es kaum abwarten,
bis die Schwestern ihre morgendliche Runde beendet hatten, um sich noch einmal
den Bericht des Obersten vorzunehmen. Ganz bewußt begann er bei den weniger
wichtigen Seiten, um sich langsam zum Kern des Berichts vorzuarbeiten, genauso
wie er als Junge, wenn ihm seine Mutter Spiegeleier gebraten hatte, langsam und
genüßlich Stück um Stück des Weißen abgeschnitten hatte, bis am Ende nur noch
die halbrunde Kugel des Dotters übriggeblieben war, die er in einer Art kleiner
Ekstase in einem Stück zum Mund führte.
    Was war der genaue Wortlaut des
Prozeßberichts gewesen? Morse nickte nachdenklich. Als Charles Franks die
Leiche sah, hatte er sie, obwohl das Gesicht sehr entstellt gewesen war,
«anhand einer kleinen Narbe hinter dem linken Ohr, die nur ihren Eltern oder
aber einem ihr sehr vertrauten Gebebten bekannt sein konnte», identifiziert.
Morse fragte sich, ob wohl schon jemals vorher vor einem englischen Gericht die
Identität einer Person aufgrund eines so dürftigen Hinweises behauptet und
beschworen worden war. Daß die Tote eine winzige Narbe hinter dem Ohr gehabt
hatte, bezweifelte er gar nicht. Der Arzt, der den Fall untersuchende
Kriminalbeamte, die beiden Frauen, die die Tote erst entkleidet und dann für
die Beerdigung wieder angekleidet hatten, sie alle hätten, falls es
erforderlich gewesen wäre, die Existenz einer solchen Narbe bestätigen können.
Nur — wer sagte denn, daß es Joanna war, die diesen winzigen Makel hinter dem
Ohr aufwies? Es gab doch zu diesem Punkt nur die Aussage des Ehemannes. Wo
waren die beiden anderen Menschen, die von der Narbe gewußt haben mußten — die
Eltern? Sie waren beim Prozeß in Oxford offenbar nicht als Zeugen geladen
worden. Warum nicht? War die Mutter durch den Tod der Tochter so angegriffen
gewesen, daß man glaubte, ihr ein Erscheinen vor Gericht nicht zumuten zu
können? Oder war sie vielleicht damals schon tot gewesen?
    Aber der Vater, der Vater war
doch auf jeden Fall noch am Leben gewesen. Ein Versicherungsagent...
    Morse besann sich wieder auf
den zentralen Punkt, den er einem imaginierten Geschworenengericht vorzutragen
gedachte. Keine Jury der Welt würde in einem Mordfall eine nur von einer
einzigen Person bezeugte Identifizierung akzeptieren, wenn nicht noch
irgendwelche zusätzlichen Beweise vorhanden waren, aus denen sich die Identität
der betreffenden Person ableiten ließ. Und auch im Fall Joanna Franks hatte es
tatsächlich einen solchen zusätzlichen Beweis gegeben (Morse schaute wieder in
den Bericht, um sich des genauen Wortlauts zu versichern). «Seine (Franks’)
Identifizierung erfuhr eine zusätzliche Bestätigung, als man später in der
vorderen Kabine der Barbara Bray ein Paar Schuhe fand, das der Toten
genau paßte.» Für die Geschworenen damals mußte die Sache etwa so ausgesehen
haben: erstens, die Schuhe in der Kabine gehörten Joanna Franks; zweitens, die
Schuhe paßten der ertrunkenen Frau; drittens, also ist die ertrunkene Frau
Joanna Franks — quod erat demonstrandum. Alle drei Aussagen schienen ja
auch auf den ersten Blick so einfach und

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