Mord am Oxford-Kanal
gegessen, mit ihnen getrunken und mit ihnen zusammen über ihre
Witze gelacht. Nach der Hälfte der Fahrt mußte ihr das Lachen dann plötzlich
vergangen sein, auf einmal erschien sie als hilfloses, gepeinigtes Wesen, das
ausgesprochen und unausgesprochen um Hilfe, Beistand, Schutz und Gnade flehte.
Und noch etwas gab Morse zu denken. Je mehr die Männer sich betranken, um so
nüchterner schien Joanna zu werden. Die Aussage des Arztes, Mr. Bartholomew,
der ihre Leiche obduziert hatte, war in diesem Punkt eindeutig. In ihrem
Körper fand sich keine Spur von Alkohol.
Hm.
Morse machte sich daran,
verschiedene unflätige Äußerungen, die die Schiffer irgendwann während der
Reise, beziehungsweise nachdem sie wegen Mordverdachts festgenommen waren, von
sich gegeben hatten und die im Prozeß durch Zeugenaussagen zur Sprache gekommen
waren, mit blauem Kugelschreiber zu unterstreichen. (Was für ein Glück, daß der
Gerichtsreporter von Jackson’s Oxford Journal diese Aussagen für wichtig
genug gehalten hatte, um sie zu notieren.)
hat sie schon rangelassen heute abend, und mich wird sie auch ranlassen, sonst
werde ich sie...> (Oldfield) ich es auch nicht ändern!> (Oldfield) sie es tun würde, und jetzt hat sie es wohl tatsächlich gemacht.> (Musson)
(Oldfield) Teufel mit der Frau! Was geht sie uns an? Wenn sie sich entschlossen hat, sich
zu ertränken, warum macht man uns dann Schwierigkeiten?> (Towns) als Zeuge gegen uns aussagen will, dann wegen anderer Dinge, nicht wegen der
Frau.> (Oldfield)
Hm.
Mochten die Äußerungen auch
unzusammenhängend und aus dem Kontext gerissen sein, sie hatten alle denselben
Tenor: eine grenzenlose Wut auf Joanna Franks. Morses Überzeugung, daß dies
nicht die Art von Bemerkungen waren, die man nach der Tat von Mördern
erwarten würde, wuchs. Scham, Reue, Angst — das waren die üblichen Reaktionen,
vielleicht in einigen Fällen unmittelbar nach Vollendung der Tat auch ein
Gefühl von Befreiung, ja Triumph. Aber nicht dieser wilde Zorn und Haß, der ja
die Schiffer, selbst nachdem man Joannas Leiche gefunden hatte, noch tagelang
beherrscht hatte.
Und dann stieß Morse bei der
Lektüre des Oxford Journals auf die Wiedergabe einer Zeugenaussage, die
der Oberst in seinem Bericht mit keinem Wort erwähnt hatte. Offenbar hatte
Oldfield irgendwann im Laufe des Prozesses behauptet, daß sie Joanna in jener
verhängnisvollen Nacht gegen vier Uhr morgens eingeholt hätten. Sie sei in
völlig aufgelöstem Zustand gewesen, und sie seien in der Dunkelheit ohnehin nur
auf sie aufmerksam geworden, weil sie wie eine Verrückte immerzu nach ihrem
Mann geschrien habe: «Franks! Franks! Franks!» Er habe, so hatte Oldfield
weiter behauptet, sie überredet, auf den Kahn zurückzukehren, doch sei sie nach
kurzer Zeit wieder auf den Treidelpfad zurückgesprungen (zum wievielten Mal nun
schon?), um dort zu Fuß weiterzugehen. Er und Towns seien ihr kurz darauf
gefolgt und seien unterwegs einem möglichen Zeugen begegnet (jenem Donald
Favant, der im Buch des Obersten kurz erwähnt wird). Doch das Gericht hatte
Oldfields Aussage offenbar keinen Glauben geschenkt, und die Staatsanwaltschaft
hatte für seinen Bericht von der zweiten Begegnung (der übrigens durch Towns
Aussage erhärtet wurde) nur Hohn übrig: Im besten Fall seien ihre Erinnerungen
durch ihre Trinkerei getrübt, aber viel wahrscheinlicher sei, daß es sich bei
ihren Aussagen um die Schutzbehauptungen «gemeiner Mörder» handele. Dies aber
war nun genau die Art staatsanwältlichen Kommentars, die Morses Glauben, daß
man vor Gericht sein Recht erhalte, über die Jahre sehr erschüttert hatte. Als
Polizeibeamter war er mit den Feinheiten des Gesetzes nicht besonders vertraut,
aber er war ein leidenschaftlicher Verfechter des Prinzips, daß ein Mann, bis
er der Tat überführt ist, für unschuldig zu gelten habe. Es war ein
Grundprinzip nicht nur kodifizierten Rechts, sondern des Naturrechts...
«Liegen Sie beguem?» fragte
Eileen und strich ihm mechanisch die Bettdecke glatt.
«Ich dachte, Sie hätten schon
Schluß.»
«Gleich.»
«Sie verwöhnen mich.»
«Das Lesen macht Ihnen großen
Spaß, nicht wahr?»
Morse nickte. «Manchmal schon.»
«Ist Lesen das, was Ihnen von
allen Dingen am meisten Spaß macht?»
«Ach, das kann ich so nicht
sagen,
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