Mord am Oxford-Kanal
höchst dramatische
Durchbruch in diesem Fall, Morse keineswegs in Begeisterungsschreie ausbrechen
ließ. Was Lewis ihm da präsentierte, ein doch recht kläglich wirkendes Paar
abgetragener Schuhe und eine womöglich noch kläglicher wirkende, zerknitterte,
schmuddelige Unterhose, vermochten in Morse auch nicht annähernd die Gefühle
auszulösen, die Christines Gabe in ihm bewirkt hatte. Das Studium der
fotokopierten Zeitungsseiten hatte Morse bald gezeigt, daß der Oberst in seinem
Bericht kein ihm wichtig scheinendes Detail ausgelassen hatte. Doch wie bei
vielen Kriminalfällen waren es gerade die unbedeutend wirkenden, irrationalen
Einzelheiten, die plötzlich blitzartig etwas erhellen und den Weg weisen
konnten für eine völlig neue Deutung der bekannten Tatsachen. Bei seiner
Lektüre der Auszüge aus dem Oxford Journal waren Morse gleich etliche
Dinge aufgefallen, die ihn — milde gesagt — in Erstaunen versetzt hatten.
Erstens wurde, wenn man verstand, zwischen den Zeilen zu lesen, ziemlich
schnell deutlich, daß die Anklage wegen Diebstahls beim ersten Prozeß deshalb
fallengelassen worden war, weil die Beweise (sofern man überhaupt von Beweisen
sprechen konnte) sich fast ausschließlich gegen den jungen Wootton gerichtet
hatten. Das bedeutete, daß man einen abgetrennten Prozeß hätte führen müssen —
und zwar gegen einen Minderjährigen. Der einzige Angehörige der Mannschaft, der
eventuell noch mit dem Diebstahl hätte in Verbindung gebracht werden können,
war Towns gewesen (der Mann, der begnadigt und nach Australien deportiert
worden war). Gegen Oldfield und Musson jedenfalls, die später wegen Mordes
gehängt worden waren, hatte es in dieser Sache auch nicht die Spur eines
Beweises gegeben. Aber was aus Joannas Besitz hatte überhaupt die
Begehrlichkeit des jungen Wootton geweckt? Im Prozeß hatte es darauf keine
Antwort gegeben. Aber, so dachte Morse — lebensweise — , im Grunde war es doch
wahrscheinlich dasselbe gewesen, was auch heute, im Jahr 1989 noch
Begehrlichkeit auslöste: Geld.
Hm.
Zweitens war ihm aufgefallen,
daß es deutliche Hinweise dafür gab, daß in ihrer zweiten Ehe Joanna es war,
die «die Hosen anhatte». Aus welchem Grund auch immer sie sich zu Charles
Franks, dem Pferdeknecht aus Liverpool, hingezogen gefühlt hatte, sein
Optimismus und seine Vitalität konnten es nicht gewesen sein, denn sie war es
gewesen, die ihn in den ersten, von Unglück geprägten Monaten ihrer Ehe
anflehen mußte, nicht den Mut zu verlieren. Einer ihrer Briefe an Charles
Franks war auszugsweise vor Gericht verlesen worden, vermutlich (so dachte Morse),
um deutlich zu machen, daß, ganz entgegen der Behauptung der Schiffer, nicht
Joanna verrückt gewesen war, sondern wenn überhaupt einer, dann höchstens ihr
Mann. versuch doch, mit Deiner ganzen Kraft anzugehen gegen das, was, wie ich
fürchte, Dich erwarten könnte, wenn Du Deinem gequälten und gepeinigten Geist
keine Ruhe gönnst. Der Verlust der Verstandeskraft ist eine schreckliche Sache
und würde alle unsere Hoffnungen zunichte machen. Sei stark, und vertraue
darauf, daß wir beide bald wieder zusammensein werden, und unter besseren
Umständen als jetzt!>
Ein ebenso kurzer wie beredter
Brief.
Waren möglicherweise beide
etwas labil gewesen?
Hm.
Drittens ließen verschiedene
Aussagen in beiden Prozessen den Schluß zu, daß die sogenannten «fliegenden
Boote» zwar am schnellsten vorwärtskamen, wenn man sich strikt an das Prinzip —
zwei im Dienst, zwei außer Dienst — hielt, daß es aber tatsächlich gang und
gäbe gewesen war, daß die vier Schiffer auch «über Kreuz» tauschten, je nach
persönlichen Vorlieben oder Erfordernissen. Oder auch Begierden, dachte Morse.
Mit großem Interesse hatte er in einem der Prozeßberichte des Oxford Journal gelesen (wieso ist Ihnen das entgangen, Oberst Deniston?), daß laut Aussage von
Towns Oldfield ihm sechs Shilling gezahlt habe, damit er, Towns, ihm die
mühevolle Arbeit, den Kahn mit Hilfe der Beine 5 durch den Tunnel bei Barton zu stoßen, abnähme. Morse
nickte wissend: Er konnte sich nur zu gut vorstellen, warum.
Hm.
Sah man viertens alle Aussagen
gleichsam «synoptisch», so ergab sich das Bild, daß Joanna zu Beginn der Reise
offenbar nichts gegen die Gesellschaft der Schiffer einzuwenden gehabt hatte,
im Gegenteil: Bei mehreren Aufenthalten unterwegs hatte sie mit ihnen am Tisch
gesessen und
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