Mord am Oxford-Kanal
einleuchtend. Aber was war, wenn die
erste Behauptung gar nicht zutraf? Wenn die Schuhe nun gar nicht Joanna gehört
hätten? In diesem Fall mußte die Schlußfolgerung unausweichlich lauten, daß,
wer immer auch die Frau war, deren Leiche man, mit dem Gesicht nach unten
treibend, im Duke’s Cut gefunden hatte, es sich jedenfalls nicht um Joanna
Franks handeln konnte.
Einen Moment noch, Morse! Nicht
so schnell! (Er stellte sich in Gedanken die Einwände des Staatsanwalts vor.)
Zugegeben, die Beweise für Joannas Identität mögen vielleicht wirklich etwas
dürftig sein, aber haben Sie — Sie selber - einen — irgendeinen — handfesten
Grund, die Richtigkeit der Identifizierung anzuzweifeln? Und eine andere Stimme
— Morses eigene — antwortete fest und zuversichtlich: Ja, den habe ich! Und
wenn das hohe Gericht es gestattet, werde ich jetzt berichten, was genau sich
am Mittwoch, dem 22. Juni 1859 zwischen drei und fünf Uhr morgens am Kanal
abgespielt hat.
Meine Herren! Wir alle, die wir
bemüht sind, das Tatgeschehen selbst wie auch die Ursachen der Tat zu
rekonstruieren, werden jedesmal aufs neue von dem Gedanken gequält: irgend
etwas ist hier geschehen, und zwar auf spezifische Art und Weise. Alle Theorie, jeder Versuch der Rekonstruktion, jede Wahrscheinlichkeit, sie
alle verblassen neben der einfachen, greifbaren Wahrheit dessen, was
tatsächlich sich ereignet hat. Wenn wir doch nur... wenn wir doch, so
pflegen wir zu sagen, bloß die Möglichkeit hätten zu sehen, was wirklich
passiert ist. Meine Herren! Ich werde Ihnen gleich diesen Wunsch erfüllen...
Sprechen Sie! sagte der
Richter.
Kapitel 27
Einbildung,
die du uns fortziehest,
Daß
wir nichts gewahren, selbst wenn
Tausend
Trompeten um unsre Ohren schallten.
Dante, Purgatorio
Von ihrem Platz, von der
Falltür aus links an der vorderen Kabine, konnte sie die beiden gut sehen. Ein
Reporter hätte in einem Bericht vermutlich etwas zusammenphantasiert, etwa daß
die Männer schnarchten, besser noch: laut schnarchten. Joanna reichte die
einfache Tatsache, daß die beiden — Oldfield und Musson — schliefen. Und sie
schliefen fest, das verriet das regelmäßige Sichheben und — senken des
dunkelbraunen Federbettes, das beide bedeckte. Hatten sie einen Rausch? Ja.
Joanna selbst war es gewesen, die dafür gesorgt hatte, daß sie sich betranken.
Es hatte allerdings auch kaum der Überredung bedurft, der Zeitpunkt war jedoch
wichtig gewesen... Sie lächelte mit grimmiger Befriedigung und warf einen Blick
auf ihre kleine silberne Uhr, die sie nach Möglichkeit immer bei sich trug. Sie
war ein Geschenk ihres Vaters zu ihrem zweiundzwanzigsten Geburtstag gewesen
(nicht zum einundzwanzigsten!), als er gerade vom Londoner Patentamt ein
größeres Honorar angewiesen bekommen hatte. Ihre Hand schloß sich fest um das
kostbare Stück, so als empfände sie es als eine Art Glücksbringer für die
bevorstehende Unternehmung.
Gelegentlich sprach sie ein
paar Worte — sehr leise, nur um Oldfield und Musson nicht zu wecken — zu dem
unehrlich wirkenden, etwas dümmlichen, pickeligen Jungen mit dem ausweichenden
Blick, der neben ihr am Eingang der Kabine stand. Seine linke Hand ruhte auf
dem Ruder, das wie ein Z geformt war und breite, rotgrüne und gelbe Streifen
trug, seine Rechte lag auf ihrem Busen (wohin sie selbst sie gelegt hatte).
Zwanzig Meter weiter vorn trottete das Pferd (ein ziemlich ausdauerndes Pferd!)
jetzt etwas langsamer, doch die Stricke längs seiner Flanken blieben straff
gespannt, während es auf dem stillen Treidelpfad vorwärtsstapfte. Das einzige Geräusch
war das Klatschen des Wassers gegen die Seiten der Barbara Bray, während
sie unaufhaltsam durch die Nacht weiter in Richtung Süden glitt.
Joanna warf einen Blick hinter
sich auf das geflochtene Korbwerk, das das Heck des Kahns schützen sollte. «Noch
ein bißchen mehr hinüber, noch ein bißchen mehr hinüber zur anderen Seite,
Tom», flüsterte sie, während der Kahn das Dorf Hampton Gay passierte. Der Kanal
machte hier einen scharfen Knick. «Und vergiß nicht unsere Abmachung», fügte
sie hinzu, während sie zur Bordwand trat. Wootton lenkte den Kahn sachte
hinüber zum linken Ufer.
Wootton war zwar erst fünfzehn,
aber in vielen Dingen seinem Alter weit voraus — jedoch nicht in allen. Niemals
zuvor hatte er ein derartiges Verlangen nach einer Frau verspürt wie jetzt nach
Joanna. Und den anderen Männern ging es genauso. Sie strahlte eine
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