Mord an der Leine
weinerlich.
»Er behauptet, er und Marcello Manfredi hätten
gleichzeitig ein Verhältnis mit Ihrer Frau gehabt.«
»Der ist …«, begann Tuchtenhagen und brach ab. Er
schluckte mehrfach, bis er erneut sprach. »Der ist nicht ganz dicht. Manuela
hatte mit niemandem ein Verhältnis. Ganz bestimmt nicht. Weder sie noch ich.«
»Es gibt ein mögliches anderes Motiv. Wir glauben,
dass Ihre Frau zufällig Zeugin des Mordes an Manfredi geworden ist.«
Und der Mord an Manfredi war nicht geplant, fiel
Frauke in diesem Moment ein. Bassetti wäre bestimmt nicht in das Büro gegangen
und hätte Manfredi gezielt getötet, wenn dessen Sekretärin anwesend war. Die
beiden mussten eine handfeste Auseinandersetzung gehabt haben, in deren Verlauf
es zu den tödlichen Verletzungen gekommen war. Das war Totschlag. Im
Unterschied dazu war die Tötung Manuela Tuchtenhagens kaltblütiger Mord, um die
erste Straftat zu vertuschen.
»Und deshalb musste Manuela sterben?« Tuchtenhagen
schüttelte sich. »Das ist doch nicht fassbar.«
»Bei dem Streit zwischen Manfredi und Bassetti ging es
vermutlich um die manipulierten Schinken, die als Original Parmaschinken in den
Nahen Osten verkauft wurden.«
»Das ist doch eine Lappalie. Dafür muss doch niemand
sterben.«
Frauke hatte den Eindruck, dass Tuchtenhagen zunehmend
aufnahmefähiger wurde.
»Sie wussten davon?«
»Von dem Schwindel mit dem Schinken? Ich habe es mir
gedacht. Natürlich habe ich die falsche Etikettierung entdeckt und Steinhövel
gefragt, was das soll. ›Halten Sie sich da raus‹, hat er geantwortet. Er hatte
damit gedroht, dass mein Job auf dem Spiel steht.«
»Und das wäre unschön gewesen, nachdem Sie schon
einmal nicht genau hingesehen haben – damals in Oldenburg.«
»Das war dumm von mir. Aber ich habe bei
Schröder-Fleisch eine zweite Chance bekommen.«
»War das eine Belohnung dafür, dass Sie in Oldenburg
nicht ausgepackt haben?«
Tuchtenhagen hob beide Hände. »Sie wissen es ja doch.«
Frauke schob sich auf ihrem Sessel ein wenig nach
vorn.
»Morgen werden sich die Kollegen bei Ihnen melden. Es
gibt noch eine Reihe von Formalitäten zu klären. Kann ich noch etwas für Sie
tun? Brauchen Sie einen Arzt?«
Tuchtenhagen lachte bitter auf und zeigte auf die
Schnapsflasche. »Der hilft mir.«
»Trotz der Dinge, die Sie jetzt überrollt haben – das
ist keine Lösung.«
»Was wissen Sie denn schon? So jemand hat doch keine
Sorgen. Einen sicheren Beamtenjob, keinen Stress, keinen Druck von oben. Nein!«
Er griff zur Schnapsflasche. »Ich brauche keine Hilfe. Ich werde künftig auch
allein zurechtkommen müssen.« Dann brachen die Tränen hervor. »Es ist besser, Sie
gehen jetzt«, sagte er schluchzend.
SECHS
Der Sonnabend oder Samstag, wie man in Hannover zu
sagen pflegte, unterschied sich in seiner Ruhe deutlich von den übrigen
Werktagen der Woche. Hinter den Bürotüren war es still, keine hastigen Schritte
eilten über den Flur, nirgendwo war das schrille Geräusch eines Telefons zu
hören.
Frauke hatte nach der Rückkehr von Thomas Tuchtenhagen
ihr Hotel aufgesucht. Nachdem sie lange wach gelegen hatte, war sie in einen
unruhigen Schlaf verfallen. Bereits um sechs Uhr konnte sie keine Ruhe mehr
finden, war aufgestanden und ins LKA gefahren.
Sie studierte noch einmal die Protokolle. Immer wieder
las sie die Schriftstücke durch. Sie hatte sich Kopien angefertigt und fügte in
die Dokumente ihre eigenen Gedanken ein. Sie markierte Stellen, unterstrich
andere Passagen in einer zweiten Farbe, leuchtete einzelne Sätze an und machte
Frage- und Ausrufezeichen am Rand.
So arbeitete sie viele Schriftstücke mehrfach durch.
Sie ertappte sich dabei, dass sie, sicher auch durch den unzureichenden Schlaf
bedingt, Passagen überlas. Es war jene Nachlässigkeit, die einem automatisch
bei mehrfachem Lesen eines Schriftsatzes überkommt. Man glaubt, den Text zu
kennen, und huscht darüber hinweg. Gerade das wollte sie jedoch nicht. Sie suchte
nach kleinen Ungereimtheiten, nach dem Haken, den sie bisher übersehen hatten.
Das neue Material, das sie entdeckt hatte, war so
umfangreich, dass sie es damit bewenden ließ, die dicken Akten zu überfliegen.
Das reichte, um ihr ein Bild zu vermitteln.
Nach vier Stunden konzentrierter Arbeit fasste sie
ihre Erkenntnisse stichwortartig zusammen. Dann versuchte sie, die Nummer des
privaten Anschlusses von Kriminaloberrat Ehlers herauszufinden.
Im örtlichen Telefonbuch von Hannover fanden sich fast
neunzig
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