Mord an der Leine
Fremdkörper. Sie war vom LKA aus zu Fuß hierhergekommen, hatte
sich in dem Café niedergelassen, in dem sie vor zwei Abenden mit Lars von
Wedell gesessen hatte. Der junge Kommissar hatte so erwartungsvoll von seiner
beruflichen Zukunft gesprochen. Und nun war er tot.
»Ist hier noch frei?«, fragte ein Mann mit dunklen
gewellten Haaren und einem Dreitagebart. Er hatte die Sonnenbrille in die Haare
hochgeschoben und lächelte Frauke an.
Sie nickte. Er schob sich den Stuhl an ihrem Tisch
zurecht, schlug die Beine übereinander und warf ihr einen langen Blick zu.
»Was trinken Sie?«, fragte er.
»Latte macchiato.«
»Ist der zu empfehlen?«
»Probier es.«
Mit einem beleidigten Gesichtsausdruck wandte sich der
Mann vom Typ »Latin Lover« ab, bestellte bei der Bedienung sein Getränk und
rückte den Stuhl noch ein wenig weiter herum, dass er Frauke fast den Rücken
zukehrte.
In Flensburg hättest du um diese Zeit vermutlich nicht
am Straßenrand gesessen und die Leute beobachtet, dachte sie und sah auf die
Uhr. Kaffee hätte es zwar gegeben, aber aus einer blubbernden Maschine, und der
Becher hätte auf ihrem Schreibtisch gestanden. Hier war sie zur Untätigkeit
verdammt, musste die Stunden nach Dienstschluss irgendwie totschlagen, bis sie
in das kleine Hotel zurückkehrte und darauf wartete, dass ein neuer Tag begann.
Und am Wochenende würde sie nach Hause zu ihrem Ehemann ins heimische Flensburg
fahren.
Sie rief die Kellnerin und bezahlte.
Du wirst in Hannover bleiben, sagte sie zu sich
selbst. Und das Wochenende wird noch trister werden als die Tage, an denen du
wenigstens durch die Arbeit abgelenkt bist.
Sie stand auf und warf ihrem Tischnachbarn einen Blick
zu. Ostentativ dreht er den Kopf zur Seite und sah woandershin.
Das ist das Ergebnis der Intrige, dachte sie. Früher
hättest du dich mit dem Mann unterhalten, ausgelotet, was für ein Typ er ist
und aus welchem Grund er dich angesprochen hat. Warum sollte eine Frau
beständig Zurückhaltung üben?
Sie beschloss, essen zu gehen. Warum nicht in der Pizzeria
Italia? Es war nicht zu erwarten, dass Simone Bassetti dort erneut auftauchen
würde. Frauke hatte auch nicht vor, die Inhaber des Restaurants zu verhören.
Manchmal war es dienlich, einfach die Atmosphäre einer Umgebung aufzunehmen.
Für den Rückweg wählte sie die ehemalige Passerelle,
die zur Promenade umfirmiert worden war und heute den Namen der Künstlerin Niki
de Saint Phalle trug, der Schöpferin der berühmten Nana-Figuren.
Die als Einschnitt in die Bahnhofstraße geführte
Passage bestand aus lauter bunten Geschäften und Imbissen, Bäckereien,
Andenkenläden und sonstigen Einrichtungen, die das Publikum anzulocken
vermochten, und führte unter dem Bahnhof hindurch, bis sie an einer
Treppenanlage endete, die auf einen kleinen schlecht gepflegten Platz führte.
Frauke konnte sich gut vorstellen, dass das letzte
Stück namentlich nach Einbruch der Dunkelheit von Frauen gemieden wurde.
Der Spaziergang hatte ihr gutgetan. Sie verspürte
regen Appetit, als sie die Tür der Pizzeria öffnete und ihr der verführerische
Duft entgegenschlug.
»Guten Abend«, begrüßte sie die Wirtin und stutzte im
selben Moment, als sie Frauke wiedererkannte.
»Ich bin allein. Einen Einzeltisch bitte«, sagte
Frauke schnell. Sie wurde an einen Zweiertisch geleitet und bekam zügig die
Karte gereicht. Frauke bestellt einen Valpolicella und Broccoli al forno. Dann
sah sie sich im Lokal um. Es war gut besucht. Ein gemischtes Publikum ließ es
sich schmecken, die Wirtin und der Kellner zeigten rege Betriebsamkeit und
bedienten aufmerksam die Gäste.
Frauke ließ ihren Blick von Tisch zu Tisch wandern.
Sie kannte keinen der Besucher, die zu zweit oder in kleinen Gruppen
zusammensaßen, aßen, tranken und in muntere Schwätzchen vertieft waren.
Sie nippte an ihrem Wein, und kurz darauf brachte der
Kellner die dampfende ovale Schale, direkt aus dem Ofen. »Vorsicht, ist heiß«,
mahnte er.
Frauke stippte eines der Pizzabrötchen, die in einem
Korb auf dem Tisch standen, in die heiße Tunke und probierte es. Lars von
Wedell und seine Freundin hatten recht gehabt. Die Pizzeria Italia war ein
Geheimtipp. Und wenn Frauke in Hannover bleiben würde, dann wäre der heutige
Besuch sicher nicht der letzte.
Sie ließ sich Zeit, bestellte noch einen zweiten
Rotwein und spürte, wie sich allmählich die Anspannung in ihr löste. Als sie
nach der Rechnung fragte, setzte sich die Wirtin auf den freien
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