Mord auf der Leviathan
schwer.
»Wenn ich richtig gerechnet h-habe, ist diese Dame jetzt 29 Jahre alt?«
Fandorins ruhige, sogar etwas indolente Stimme half Clarissa, sich wieder in die Gewalt zu bekommen. Für weibliche Eitelkeit war hier nicht der Platz, und sie rief: »Was starren Sie mich so an, Herr Schnüffler? Sie machen mir da ein unverdientes Kompliment. Ich bin älter als Ihre Abenteurerin, fast zehn Jahre! Auch die übrigen Damen taugen kaum für die Rolle der Mademoiselle Sansfond. Madame Kleber ist zu jung, und Madame Truffo spricht, wie Sie wissen, nicht französisch!«
»Für die gewiefte Marie Sansfond ist es eine Kleinigkeit, zehn Jahre mehr oder weniger zu spielen«, antwortete der Kommissar gemächlich, wobei er Clarissa nach wie vor durchdringend ansah. »Besonders wenn so viel Geld auf dem Spiel steht und im Falle des Scheiterns die Guillotine droht. Waren Sie wirklich nicht in Paris, Mademoiselle Stomp? Irgendwo in der Nähe der Rue de Grenelle?«
Clarissa wurde totenbleich.
»Na, hier muß ich mich als Vertreter der Schiffahrtsgesellschaft ›Jasper & Arthaud Partnership‹ einmischen«, unterbrach Regnier gereizt den Polizisten. »Meine Damen und Herren, ich versichere Ihnen, Gauner mit internationaler Reputation hatten keinen Zugang zu unserm Schiff. Unsere Gesellschaft garantiert, daß sich auf der ›Leviathan‹ keine Falschspieler, keine Kokotten und erst recht keine polizeibekannten Abenteurerinnen befinden. Verstehen Sie, wir sind auf Jungfernfahrt und tragen eine besondere Verantwortung. Skandale können wir uns nicht leisten. Kapitän Cliff und ich haben immer wieder die Passagierlisten durchgesehen und in Zweifelsfällen Erkundigungen eingezogen. Auch bei der französischen Polizei, Herr Kommissar. Ich und der Kapitän sind bereit, für jeden der Anwesenden zu bürgen. Wir werden Sie nicht hindern, Ihrer Berufspflicht nachzukommen, Monsieur Coche, aber Sie verschwenden Ihre Zeit. Und das Geld der französischen Steuerzahler.«
»Na-na«, knurrte Coche. »Wir werden ja sehen.«
Worauf Mrs. Truffo zur allgemeinen Erleichterung das Gespräch auf das Wetter brachte.
REGINALD MILFORD-STOKES
10. April 1878
22 Uhr 31
Im Arabischen Meer
17 Grad 06 Minuten 28 Sekunden nördl. Breite
59 Grad 48 Minuten 14 Sekunden östl. Länge
Meine teure und heißgeliebte Emily!
Diese Höllenarche ist in der Gewalt böser Mächte. Ich spüre das mit meiner ganzen leidenden Seele. Wobei noch nicht einmal sicher ist, ob ein Verbrecher wie ich überhaupt eine Seele hat. Ich habe geschrieben und nachgedacht. Ich erinnere mich, daß ich ein Verbrechen verübt habe, ein furchtbares Verbrechen, für das es keine Vergebung gibt noch geben kann, aber seltsamerweise ist mir total entfallen, worin es eigentlich bestand. Und ich möchte es auch gar nicht mehr wissen.
In der Nacht, im Schlaf, erinnere ich mich sehr gut daran, wie wäre sonst der grauenhafte Zustand zu erklären, in dem ich jeden Morgen aufwache? Wenn nur unsere Trennung bald zu Ende wäre. Ich habe das Gefühl, daß nicht mehr viel fehlt, und ich verliere den Verstand. Das käme sehr zur Unzeit.
Die Tage ziehen sich quälend in die Länge. Ich sitze in der Kabine und starre auf den Minutenzeiger des Chronometers. Er bewegt sich nicht. An Deck vor dem Fenster hat jemand gesagt: »Heute ist der zehnte April«, doch ich konnte nicht begreifen, wieso der zehnte April. Ich schließe meine Schatulle auf
und sehe, daß mein gestriger Brief an Sie vom 9. April datiert ist und mein vorgestriger vom 8. April. Also hat alles seine Richtigkeit. Der 10. April.
Schon seit Tagen lasse ich kein Auge von Professor Sweetchild (wenn er denn tatsächlich Professor ist). Dieser Mann ist in unserm Salon »Hannover« sehr beliebt. Er ist ein notorischer Phrasendrescher und brüstet sich mit seinen Kenntnissen in Geschichte und Orientalistik. Kein Tag vergeht ohne neue Märchen über Schätze, eines unwahrscheinlicher als das andere. Zu allem übrigen hat er unangenehme huschende Ferkelaugen. Manchmal blitzen darin wahnsinnige Fünkchen. Sie müßten mal hören, mit welch wollüstiger Stimme dieser Mann von Edelsteinen erzählt. Bestimmt ist er über all den Brillanten und Smaragden verrückt geworden.
Heute während des Frühstücks ist Doktor Truffo plötzlich aufgestanden, hat laut in die Hände geklatscht und feierlich verkündet, Mrs. Truffo habe Geburtstag. Alle riefen Ah und Oh, gratulierten dem Geburtstagskind, und der Doktor überreichte seiner unansehnlichen
Weitere Kostenlose Bücher