Mord auf Frauenchiemsee - Oberbayern Krimi
Tier.
Heidelinde erfasste blankes Entsetzen. Hier hatte ein Kampf stattgefunden. Blut tränkte den Schnee.
Ohne nachzudenken, kniete sie sich hin und drehte den Körper vorsichtig um. Zunächst glaubte sie, ihr Sohn hätte kein Gesicht mehr. Sie tastete nach dem Puls, fand ihn aber nicht. Ihre Hände zitterten, ihre Zähne schlugen hörbar aufeinander. Sie musste Hilfe holen, und als Heidelinde in ihre Manteltasche griff, wusste sie, was Martin ihr an der Tür nachgerufen haben musste.
Sie hatte ihr Handy nicht eingesteckt.
* * *
»Ich hab nie darauf geachtet, aber du hast große Füße«, bemerkte Althea. Der Ablenkungsversuch würde nichts bringen, man hatte sie ertappt, wie sie den Ring der seligen Irmengard über ihren eigenen Finger schob. Ein Glück, dass es ihr Neffe war.
»Du hast dich verkleidet und an Klostereigentum vergriffen.« Er stand über ihr und hörte sich an wie das Gesetz.
»Ich hab mich warm angezogen, nicht verkleidet. Hältst du mal?« Und Althea streckte Stefan die in Seide gehüllte Knochenhand hin. Er musste sie festhalten oder fallen lassen. Althea hätte sie aufgefangen, aber das brauchte sie nicht. »Dann kann ich ihr den Ring leichter überstreifen«, sagte sie.
Schaudernd verzog er das Gesicht. »Bitte beeil dich, sonst kommen wir beide in Teufels Küche.« Er sank auf die Altarstufen vor dem Schrein und schüttelte den Kopf, als könnte er nicht glauben, was er da gerade tat. »Woher ist der Ersatz, er sieht gar nicht schlecht aus.« Damit war ihr Ring gemeint.
»Er war eine wirklich kostspielige Anschaffung«, sagte Althea. Sie sah im Gesicht ihres Neffen, dass er verstanden hatte.
»Die Aktion, für die ich augenblicklich von den Schwestern etwas geschnitten werde, rate ich mal kühn.«
Althea bog das Blech ein wenig auseinander und zog den Stoffbezug des Fingers glatt. »Beobachtet hast du mich sicher nicht«, sagte sie.
»Nein, aber was hättest du sonst in Zivil draußen gewollt? Marian, der Preis dieses Rings ist jetzt schon mehr als ärgerlich. Schwester Bärtchen hat mir einen Vortrag gehalten, als wäre ich ein ungezogener Junge, der einer Dame unter den Rock gefasst hat. Ich glaube, dafür schuldest du mir jetzt wirklich was.«
»Aber du wohnst noch immer im Kloster und nicht im Gästehaus?«, vergewisserte sich Althea.
»Was kein ernst zu nehmendes Hindernis wäre. Dem Archivar begegnet man öfter in den Gängen, und um einen Schlüssel könnte ich Schwester Jadwiga wohl auch bitten. – Sind wir bald fertig?«
* * *
Sie konnte niemanden anrufen. Telefonzellen gab es nicht in der Gegend, und bis zum nächsten bewohnten Haus waren es mindestens zwei Kilometer. Bei dem Sturm würde sie dann vielleicht daran vorbeilaufen, oder es war niemand zu Hause oder … Heidelinde weinte. Reiß dich zusammen!, mahnte sie sich. Es geht um Leben und Tod. Um Leben und Tod, wiederholte sie in Gedanken und wischte über ihre Augen.
Du fährst jetzt das Auto auf die Wiese und klappst den Beifahrersitz so weit zurück, dass Andreas liegen kann. Dann … dann trägst du ihn das kurze Stück, wenn es sein muss. Das schaffst du!
Es war die Angst, die ihr das eingab, und sie würde nicht darüber nachdenken, ob sie es auch schaffte, den Fiat danach wieder auf die Hauptstraße zurückzusetzen. »Traunstein«, sagte sie. »Wir fahren in die Klinik nach Traunstein.«
Es gab keine Zeit zu verschwenden. Wenn ihr Sohn noch einen Puls hatte, dann hatte sie ihn nicht spüren können. Ihre Hände waren kalt, sie wollte ihn nicht anfassen, um seine Körpertemperatur zu überprüfen. Sie lief zurück zum Auto und fuhr es rückwärts bis knapp an den Waldrand. Wenn Martin sie jetzt sehen könnte, der hätte gestaunt. Seine Frau sei keine besonders gute Autofahrerin, sagte er jedem, den es nicht interessierte.
Als sie es geschafft hatte, den Sitz ein ganzes Stück nach hinten zu schieben und die Lehne flachzustellen, sah sie seitlich entgegenkommende Scheinwerfer – ein Auto. Heidelinde stürzte aus dem Fiat, rannte über die Wiese und winkte mit den Armen.
»Hilfe!«, brüllte sie, um den zischenden Wind zu übertönen. »Hiiiiilfeee!« Der Wagen fuhr weiter.
Sie trug einen roten Mantel, sie war doch nicht unsichtbar, und die Rückleuchten des Fiat musste man auch bemerken. Der Fahrer musste sie gesehen haben, warum hielt er nicht an?
Zeit vergeudet. Heidelinde rannte zurück und nahm die Wolldecke, die immer im Wagen lag, aus dem Kofferraum.
Wenn sie Andreas irgendwie auf die
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