Mord im Bergwald
Lieblingskuh Irmi Zwo, die einem methusalemischen Kuhalter zustrebte. Aber diese Rassen waren eben zäh und geländegängig, keine wandelnden Fleischberge und keine Milchmaschinen.
»Wir dachten, wir könnten ein Erlebniszentrum für Kinder machen. Eins, das das Drama der Bisons und der Indianer erklärt. In ihrem klassischen Lebensraum gab es zeitweise zwischen 34 und 120 Millionen dieser Tiere. Mit den europäischen Einwanderern kam die Vernichtung. Für die Mounties, die kanadische Polizeieinheit, wurden riesige Herden umgebracht, um Bisonfellmäntel zu gewinnen. Und bald schon schossen Europäer aus der Canadian Pacific Railway heraus diese Tiere zu Hunderttausenden nieder und ließen sie verrotten! Sie taten das aus Spaß an der Jagd, aber auch, um damit den Indianern ihre Lebensgrundlage zu entziehen. Denn die Indianer jagten Bisons und verwendeten das ganze Tier, Fleisch, Felle. Die Bisonjagd involvierte das ganze Dorf, der Medizinmann legte einen günstigen Tag fest, die Frauen sprachen Beschwörungsformeln, denn das Unterfangen war lebensgefährlich.«
Irmi starrte das Mädchen an. Sie hätte sich gewünscht, einfach so aus dem Stegreif reden zu können. Ohne Vorbereitung, ohne Spickzettel. Mit dieser Energie und diesem Wissen. »Sie sind sehr gut informiert«, sagte sie lahm.
»Es gab ein Konzept, einen Wirtschaftsplan. Und weil die hier so verbohrt sind, wollten wir das woanders machen. Drüben in Tirol vielleicht. Ist ja nicht weit, aber offener«, sagte Meike schlicht.
Irmi war aufgewühlt. Wegen des Mädchens, aber auch weil ihr mehr und mehr bewusst wurde, dass Fichtl noch ganz andere Feinde gehabt haben konnte. Neider unter den Nachbarn, Neider unter den Touristikern. Es war das alte Lied: Wer etwas bewegte, setzte damit auch das gesamte Spektrum an Neid und Missgunst in Bewegung.
Irmi atmete tief durch. »Ich nehme mal an, deshalb war Pius am Ende auch der Milchstreik egal?«
»Ja, aber erst später. Viel später. Er hatte sich anfangs so sehr reingekniet. Er wollte mit einer Delegation von jungen Bauern zum Landwirtschaftsminister und ihm klarmachen, dass man eine Molkerei ins Boot holen müsse. Sie hier in Bayern haben mit der Milch das ja wohl am besten überwachte Lebensmittel der Welt! Pius' Idee und die einiger anderer war es, dass man Milch als Qualitätsprodukt vermarkten müsse.«
»Na ja, das tun ja einige Biomolkereien schon«, warf Irmi ein.
»Ja, aber das ist doch keine Lösung. Eine große, ich sag mal: normale Molkerei müsste da mit großem Marketingbudget einsteigen. Sie glauben doch nicht, dass irgendein Konsument weiß, wie gut die Milch in Bayern überwacht ist.«
Irmi schüttelte den Kopf. Nein, das wussten in der Tat die wenigsten. Aber sie wussten, welcher Supermarkt gerade wieder die Preise gesenkt hatte. »Hat Pius also aufgegeben?«
»Er hat seine Mitmenschen aufgegeben, wenn Sie so wollen. Aber nicht die Idee, mit Landwirtschaft Geld zu verdienen.«
Das warf ein völlig neues Licht auf den Fall. Was, wenn die Eltern davon Wind, und was, wenn der Bruder Angst um seine Pfründe bekommen hatte? Was, wenn die Familie diesen Plan hatte vereiteln wollen? Wenn der Bruder in Rage geraten war? Wenn Peter seinem Zwillingsbruder den Schädel eingeschlagen hatte? Die meisten Verbrechen geschahen im engsten Kreise, weil hier auch die engsten Bande bestanden. Bande, die einschnürten. Fesseln, die einschnitten. Verletzungen, die wie Feuer brannten.
»Und Pius war auch am vergangenen Mittwoch bei Ihnen oben, um gemeinsam mit Ihnen eine definitive Zukunftsentscheidung zu treffen?«
»Ja, und er wollte am Morgen gleich eine kleine Biketour machen. Um den Kopf auszulüften. Er ist nicht wiedergekommen.«
»Haben Sie ihn denn nicht gesucht? Ich meine, wenn jemand einfach so verschwindet ...« Irmi war sprachlos.
»Es herrschte den ganzen Tag die pure Hektik auf der Hütte. Ich habe ab Mittag ab und zu sein Handy angerufen, aber ich hatte viel zu tun. Da waren ja diese ganzen Politiker. Erst abends habe ich es immer und immer wieder versucht. Sonst konnte ich wenig tun. Hätte ich bei ihm zu Hause anrufen sollen? Ich? Mir stand das nicht zu. Ich existiere doch gar nicht für die!«
Irmi wollte sich nicht ausmalen, was Meike die letzten Tage durchgestanden hatte. Die Angst, die Ungewissheit, schlimmer noch: ganz allein zu sein, allein mit ihrer Angst und ihrer Hilflosigkeit. Mit dem Gefühl, langsam durchzudrehen. Und nun war ihr Freund tot. Ach was – ihr Verlobter,
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