Mord im Dirnenhaus
ihren Familien hatten heute das Vorrecht, ganz vorne in der Nähe des Altars und des aufgebahrten Sarges zu stehen. Alle anderen Gottesdienstbesucher – und es waren an diesem Tag sehr viele angesichts der Anwesenheit des Abtes von Groß St. Martin – mussten sich hinter ihnen zusammenquetschen und würden höchstwahrscheinlich kaum etwas von den Worten der heiligen Messe mitbekommen.
Adelina war nicht ganz bei der Sache. Sie musterte immer wieder aus den Augenwinkeln ihre Zunftbrüder und die anwesenden Ratsherren. Wer von ihnen hätte wohl einen Grund, Keppeler und van Kneyart umzubringen? Je länger sie darüber nachdachte, desto deutlicher wurde ihr, dass von den Stadträten beinahe jeder in Frage kommen konnte. Die Tinte auf der neuen Stadtverfassung war noch nicht ganz getrocknet, und wenn Thönnes van Kneyart tatsächlich ein Verräter gewesen sein sollte, dem jemand auf die Schliche gekommen war …
Adelina atmete tief ein. Es musste kein Ratsherr gewesen sein. Nein, eher einer der Zunftbrüder, das wäre logischer. Denn vielleicht wollte der Täter den Verräter beseitigen und dann seinerseits van Kneyarts Amt übernehmen. Oder sein Geschäft. Oder sogar beides.
Schaudernd richtete Adelina ihren Blick wieder auf den Altar und den Abt, der bereits mitten in der lateinischen Liturgie war und die Hände segnend ausgebreitet hatte. Doch ihre Gedanken wanderten weiter.
Selbst wenn jemand an van Kneyart Selbstjustiz geübt hatte, erklärte das noch nicht die Vergiftung Keppelers. Es sei denn, jemand wollte, wie Neklas und Reese schon einmal angedacht hatten, sowohl das Geschäft des Goldschmieds als auch den vorgesehenen Schöffenposten Keppelers an sich bringen. Nur, würde jemand derart kaltblütig vorgehen?
Ihr Blick wanderte wieder über die Trauergäste und blieb an Entgen hängen. Die Schwester des Goldschmieds schien in den letzten Tagen sehr gealtert zu sein. Um ihre Mundwinkel hatten sich tiefe Furchen eingegraben, und sie hatte ihre rotgeränderten Augen stoisch auf den Sarg gerichtet. Ihre Lippen formten unablässig tonlose Worte.
Vielleicht sollte ich mich ein wenig um sie kümmern, dachte Adelina. Bestimmt leidet sie noch immer unter Schlaflosigkeit. Vielleicht kann Neklas sie behandeln.
Neben Entgen stand die Witwe des Verstorbenen mit ihren Kindern. Alle machten sehr gefasste Gesichter.
Dies änderte sich erst, als der Trauerzug die Kirche wieder verließ und hinter den Sargträgern, sechs kräftigen Zunftbrüdern, den Kirchhof und das offene Grab ansteuerten. Nun setzte ein lautes Weinen und Wehklagen ein. Die Witwe tupfte sich unablässig dieAugen, und mehrere Klageweiber rangen die Hände und schluchzten herzzerreißend, während drei Benediktinermönche psalmodierten und der Abt selbst das Weihrauchgefäß schwang.
Der Regen hatte sich verstärkt und prasselte unablässig auf die Menschen nieder. Ein leichter Wind kam auf und Adelina meinte, in der Ferne leises Donnergrollen zu vernehmen. Hoffentlich würde das Unwetter nicht allzu schlimm werden.
Die Luft hatte sich merklich abgekühlt, als sich Adelina und Neklas frühzeitig vom Leichenschmaus im Zunfthaus verabschiedeten. Der Regen hatte aufgehört, doch ein scharfer Wind trieb bereits neue Wolken von der Eifel her auf die Stadt zu. Und noch immer grollte der Donner in der Ferne.
Schweigend liefen die beiden nebeneinander her in Richtung Rhein. Erst als die Weckschnapp bereits in Sicht kam, ergriff Neklas das Wort. «Womöglich ist Ludmilla tatsächlich unschuldig.»
Adelina sah ihn überrascht von der Seite an. Er verzog das Gesicht zu einer grimmigen Miene. «Auf dieser Beerdigung hatte doch beinahe jeder Trauergast einen vorstellbaren Grund, van Kneyart und Keppeler aus dem Weg zu schaffen. Sei es aus politischen oder aus geschäftlichen Gründen.»
«Beängstigend», stimmte Adelina zu.
«Aber es scheint mir eher unwahrscheinlich, dass einer von diesen Männern Ludmilla überhaupt kennt.»
«Aber ihre Frauen werden sie vielleicht kennen, vor allem, wenn die eine oder andere schon einmal eine schwere Geburt hatte.»
Nun war es an Neklas, Adelina überrascht anzusehen. Sie zuckte mit den Schultern und blieb ein paarSchritte vor dem Eingang des Gefängnisturmes stehen. «Es ist trotzdem unwahrscheinlich, da hast du recht.»
«Dann sollten wir herausfinden, wie der Täter auf anderem Wege an Eisenhut gekommen ist.»
«Oder Eisenhutessenz. Die kann man in jedem Laboratorium herstellen, wenn man die Pflanze hat.» Sie sahen
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