Mord im Dirnenhaus
Polierens der Waage übernehmen sollte. Mira erläuterte sie derweil, wie man im Mörser Knochenwurz zermahlte, als sich die Tür öffnete und Entgen, wie immer in tiefstes Schwarz gekleidet, eintrat.
«Guten Morgen, liebe Frau Adelina», grüßte sie mit einem herzlichen Lächeln, das jedoch die dunklen Schatten unter ihren Augen nicht vertrieb. «Ich musste einfach herkommen. Würdet Ihr mir noch etwas vonEurem Konfekt verkaufen? Es schmeckt so gut, und …», sie senkte vertraulich die Stimme, «… es tröstet mich ein wenig. Immer wenn ich es esse, geht es mir gleich ein wenig besser.»
«Aber sicher, Frau Entgen.» Adelina nickte und winkte die Kundin näher. «Zwar seid Ihr derzeit die einzige, der ich überhaupt etwas davon verkaufe …»
Entgen hob erstaunt den Kopf, sodass Adelina erklärte: «Ich habe keinen großen Vorrat mehr. Und solange nicht geklärt ist, wie der Eisenhut hineingeraten konnte, stelle ich auch keines mehr her noch biete ich es den Leuten zum Kauf an.»
«Ach so, ich verstehe. Damit vermeidet Ihr Gerede.» Entgen nickte mitfühlend. «Das ist alles sehr schrecklich, auch und gerade für Euch. Sagt, wisst Ihr denn schon etwas Neues? Mir erzählt man ja nichts. Alle wollen mich bloß schonen.»
Bedauernd schüttelte Adelina den Kopf. «Nein, bisher gibt es keine neuen Erkenntnisse.» Sie hob den Kasten mit dem Konfekt unter dem Tresen hervor. Gerade als sie den kleinen Riegel öffnen wollte, polterte es irgendwo im Haus. Beide Frauen hoben alarmiert den Kopf.
Adelina lauschte und wies dann Mira an: «Geh und sieh nach, was das war.»
Mira nickte und rannte los. Offenbar kam ihr die Abwechslung sehr gelegen.
«Euer Haushalt ist recht lebhaft geworden», kommentierte Entgen mit einem wohlwollenden Lächeln. «Es ist schön, wenn Kinder, Lehrlinge und Familie das Haus mit Leben erfüllen. In meinem Haus ist es derzeit entsetzlich ruhig.»
«Das kann ich mir vorstellen.» Immer noch mit einemOhr bei den Geräuschen, die irgendwo aus den Wohnräumen kamen, nickte Adelina. «Habt Ihr denn mittlerweile entschieden, ob Ihr zu einer Heirat bereit seid?» Wieder griff sie nach dem Riegel des Konfektkastens, doch da flog die Tür des Hinterzimmers auf und Mira stürzte herein. «Frau Meisterin, Ihr sollt kommen! Vitus hat Fine gesucht und dabei den Topf mit dem Essen für heute Abend umgeschmissen. Und Moses frisst jetzt die ganze Suppe. Vitus heult, und dann ist auch noch ein Regalbrett runtergekracht, als die Katze draufgesprungen ist.»
Adelinas Augen weiteten sich. «Wo sind denn Franziska und Magda?», wollte sie ärgerlich wissen.
Mira hob die Schultern. «Franziska hat Vitus weggebracht und Magda wischt die Suppe auf. Das, was Moses noch übriggelassen hat», fügte sie noch hinzu.
Adelina stieß die Luft aus. «Geh wieder an deine Arbeit», wies sie das Mädchen an und wandte sich dann mit einem entschuldigenden Lächeln an Entgen. «Verzeiht, ich muss nach meinem Bruder sehen. Wenn Ihr so lange warten möchtet, es dauert bestimmt nicht lange.»
«Aber ja doch», winkte Entgen ab. «Geht nur. Ich habe Zeit.»
Adelina eilte zu der Unglücksstelle und stolperte beinahe über Magda, die gleich hinter der Küchentür kniete und sich bemühte, die Überreste des Eintopfs aus den Bodenritzen zu entfernen. Moses hockte mit zufriedener Miene daneben und leckte sich ein ums andere Mal die Schnauze. Adelina warf ihm einen strafenden Blick zu, den er mit einem freundlichen Schwanzwedeln quittierte.
Rasch zog Adelina die Tür wieder zu und horchte.Franziska schien mit Vitus hinausgegangen zu sein. Seine weinerliche Stimme schallte aus dem Garten.
An der Hintertür traf sie auf Griet, die mit großen Augen hinausstarrte und Vitus’ Anfall bestaunte. Adelina schob sie beiseite. «Geh wieder hinein. Du hast doch eine Arbeit, oder nicht?»
Griet zuckte zusammen und zog den Kopf ein. «Vitus weint», sagte sie mit beinahe tonloser Stimme. «Er weint ganz schrecklich, weil er den Topf umgeworfen hat. Aber das ist doch nicht so schlimm, oder?»
Adelina zuckte mit den Schultern. «Schlimm genug.» Sie legte der Kleinen eine Hand auf die Schulter. «Nun komm. Geh wieder an die Arbeit. Vitus wird sich schon wieder beruhigen.»
«Aber warum weint er so?»
Adelina blickte Griet in die Augen und erkannte neben Neugier noch etwas anderes in den Augen des Mädchens: Unverständnis. Tiefstes Unverständnis darüber, dass eine Nichtigkeit wie verschüttete Suppe derartige Tränenströme verursachen
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