Mord im Garten des Sokrates
vier oder fünf Mal auf dieses kleine Gleichnis ansprach und seine Antwort immer wieder herauszögerte. Irgendwann sagte er dann, er könne sich nur für die Gesetze der Stadt entscheiden, aber es breche ihm das Herz.»
Ich biss mir auf die Lippe. Diese Antwort hatte ich erhofft und erwartet, und ganz von selbst begannen sich die vielen kleinen, bunten Steinchen, die sich in den letzten Jahren in meinen Taschen gesammelt hatten, zu einem Bild zusammenzusetzen. Es war noch nicht vollständig, das wusste ich, aber allmählich bekam alles einen Sinn. Wir saßen in unserem dunklen Garten, und trotzdem meinte ich alles so klar zu sehen, als ob die helle attische Sonne über dem Lykabettos stände.
«Wann zeigte sich diese Wesensänderung an Periander, die außer dir niemand bemerken wollte? Du weißt, was ich meine?»
«Das muss …», wieder überlegte Sokrates lange. «Du hast recht! Das muss in etwa zur gleichen Zeit gewesen sein! Was, glaubst du, hat das zu bedeuten?»
Ich war damals noch viel zu jung und ungeduldig, um die Antwort zurückzuhalten. Sie wollte nun einmal aus mir heraus, und Schweigen ist noch nie meine Sache gewesen. Also sagte ich: «Ich glaube, hier liegt der Grund dafür, dass Periander erschlagen wurde.»
«In dieser Geschichte?», fragte Chilon überrascht. Sokrates dagegen blieb still. Er lauschte.
«Der Bau der spartanischen Flotte, die Niederlage Athens, die Herrschaft der dreißig Tyrannen – all das war von langer Hand vorbereitet», erklärte ich. «Periander wurde nur einen Tag vor der Ankunft der persischen Bankiers und ihrem Treffen mit Kritias ermordet. Bei genau diesem Treffen hat Kritias den Athener Staatsschatz an die Perser verpfändet. Ihr wisst, der persische Kapitän hat es mir offenbart. Ich bin sicher, Periander hat von Kritias’ Plänen gewusst. Er kannte ihn und die Verschwörer gut. Es waren seine Freunde.»
«Und?», fragte Chilon, der immer noch nicht verstand.
«Siehst du es nicht?», fragte ich fast hitzig. «Die Verschwörung war gegen das Gesetz, aber sie wurde von Menschen getragen, die Periander nahestanden. Kritias war der beste Freund seines Vaters und der Onkel seines Geliebten. Sokrates’ kleine Geschichte machte ihm klar, dass er ihn und die anderen verraten musste!»
«Weil er nur dann gerecht war?», fragte Chilon, dem die Dinge allmählich klarer zu werden schienen.
«Weil er nur dann gerecht war», bestätigte ich. «Er hatte sich entschieden. Sokrates’ Geschichte hatte es ihm gezeigt: Die Gesetze der Polis stehen über den Gesetzen der Familie und der Freundschaft. Also musste er seine Freunde verraten und damit vielleicht sogar den Menschen, der ihm von allen am nächsten stand …»
Ich brauchte nicht weiterzusprechen. Sokrates und Chilon wussten ohnehin, wen ich meinte. Für einen Moment blieb alles still. Selbst die Nachtvögel schwiegen, als machten sie eine Atempause vor ihrem nächsten Lied. Aber das Gespräch war, das ahnte ich, noch nicht ganz zu Ende.
«Du tust ihm unrecht», sagte Sokrates nach einer Weile.
«Wem, Kritias?», fragte Chilon überrascht.
«Nein, nicht Kritias», antwortete Sokrates. «Platon.»
athen war meine stadt. Ich kannte jeden Weg, jedes Haus, jeden Tempel und jede Statue. Mit geschlossenen Augen hätte ich meinen Weg gefunden. Die Viertel, durch die ich mich bewegte, erkannte ich an den Geräuschen aus den Werkstätten und den Gerüchen aus den Küchen. Obwohl man kaum die Hand vor Augen sah, wusste ich, dass sich nur fünf Stadien vor mir der Areopag erhob und hinter ihm die Akropolis thronte. Ein schmaler Lichtschein, kaum heller als ein Stern am Himmel, leuchtete vom Parthenon her. Dort brannte ein ewiges Feuer, stündlich von den Priestern gespeist. Jetzt einige Schritte nach rechts hinunter; nur nicht zu laut, um niemanden zu wecken und nicht die Aufmerksamkeit der vermaledeiten Toxotai auf mich zu ziehen. Endlich stand ich vor dem großen Gefängnisportal. Ich hatte nicht lange darüber nachdenken müssen. Gleich, nachdem Sokrates gegangen war, wusste ich, dass ich Myson befreien musste. Jetzt stand ich hier, bewaffnet mit einem Brecheisen und einem Hammer, die ich mir bei Raios geborgt hatte.
«Was willst du mit dem Werkzeug, Nikomachos?», hatte mich mein Schwiegervater gefragt, nachdem er es mir noch halb im Schlaf gegeben hatte.
«Nichts, es ist besser, wenn du es nicht weißt», antwortete ich und machte mich schon wieder auf den Weg.
«Warte!», rief er mir nach. «Hast du nicht gehört? Es wird jetzt
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