Mord im Garten des Sokrates
die einzige bleiben, die er meinetwegen vergoss. Vielleicht weinte er sogar diese eine nur um sich selbst.
Ich ging zurück in Richtung Kaserne. Mit jedem Schritt, mit dem ich mich von Lykon entfernte, fühlte ich mich wohler, freier, glücklicher. Viel zu viel Zeit hatte ich mit dieser hübschen Lüge verbracht, viel zu viel Zeit.
Ich begann fröhlich zu pfeifen. Es war das Liebes- und Trinklied, das ich gerade erst in dem Wäldchen gehört hatte. Mir war leicht ums Herz. Der Boden schien weniger heiß, die Sonne weniger drückend als zuvor. Ein strahlender Himmel stand über der Stadt, leuchtend wie das Meer der Ägäis. Ein paar Kraniche kreisten über den Dächern. Der Ostwind fand von den Gebirgen seinen Weg durch die Gassen und begleitete mich. Menschen, denen ich begegnete, lachten mir zu. Ganz Athen war mit mir einig. Ich war schon eine Weile gegangen, als ich mich umdrehte und zur Akropolis hinaufsah. Da stand sie, die kühle Gebieterin dieser Stadt: Auch die Göttin der Vernunft schien sich darüber zu freuen, dass ich endlich Vernunft angenommen hatte. Belohnte sie mich durch das, was gleich kam?
Ich war kaum im Hauptgebäude der Kaserne angelangt, als mir Myson wieder aufgeregt entgegenstürmte. Es war ungeheuer, mit welcher Kraft er sich in diese Untersuchung stürzte. Ob ich denn schon wisse …, wollte er mich fragen, und ja, sagte ich, ja, ich hätte Lykon getroffen. Myson schien nicht zu verstehen. Nein, es gehe nicht um Lykon. Etwas anderes, viel Wichtigeres war zu berichten: Der Ring war gefunden.
Von der Schreibstube nur einen Flur entfernt, befand sich im Hauptgebäude der Kaserne eine kleine Zelle, ein kahler Raum mit einer festen Eichentüre, hartem Lehmboden und einem vergitterten Fenster. In dem Raum gab es nur einen Schemel und ein wenig Stroh in einer Ecke, das nie allzu frisch war. Wir benutzten die Zelle manchmal, um einen Trunkenbold ausschlafen zu lassen oder einem Streithammel das Mütchen zu kühlen. Im Scherz nannten wir sie unser Schlafzimmer. Jetzt wartete dort aber weder ein Säufer noch ein Raufbold auf uns, sondern ein ganz anderes Kaliber. Gekrümmt saß er auf dem Schemel, der unter den Fettschürzen seines Hinterns fast verschwand. Das dicke Gesicht hatte er in Falten gelegt und die wulstigen Lippen trotzig gespitzt, ein fetter, ja unförmiger Kloß von einem Menschen, ebenso breit wie hoch, dessen Frisur, Kleidung und Schmuck jedoch einen eigentümlichen Kontrast zu seiner plumpen Erscheinung bildeten. Die Haare waren lang, sorgfältig gekämmt und mit aromatischen Ölen behandelt, feine Goldfäden hatte er in seinen Bart geflochten. Seine Kleidung war aus rotschimmernder Seide, dem Stoff, von dem ich bis vor drei Tagen noch nicht einmal gewusst hatte, dass es ihn gab, und an jedem Finger seiner weißen Hand trug er einen zierlichen Ring. Und einen dieser Ringe, ich entdeckte ihn sofort, schmückte eine in einen Lorbeerkranz gefasste schwarze Perle.
Hermogenes war der Name dieses Mannes. Ich kannte ihn durch meinen Schwiegervater. Er war ein reicher Juwelier, ein Gold- und Silberschmied, galt aber selbst in dieser ohnehin nicht allzu ehrlichen Zunft als ausgemachter Betrüger. Kein Gewicht in seinem Laden stimmte, keine Goldlegierung in seinem Geschäft blieb rein.
Als Hermogenes mich sah, sprang er auf, soweit dies mit seinem Körper überhaupt möglich war, und umarmte mich theatralisch.
«Nikomachos», sagte er schwitzend und atemlos, «Athene sei dank, du bist da. Stell dir vor, sie haben mich mitgenommen. Sie haben mich verhaftet! Mich, Hermogenes, den ehrlichsten Juwelier der Stadt! Du kennst mich, dein Schwiegervater kennt mich. Er wird für mich bürgen …» Seine Stimme überschlug sich beinahe. Ich unterbrach ihn grob.
«Zeig mir den Ring», befahl ich. Er erbleichte augenblicklich, und das devote Lächeln wich ihm aus dem Gesicht. Er wusste nicht, was er tun sollte, wohl aber, dass er in Gefahr war.
«Zeig mir den Ring», wiederholte ich. «Es ist besser für dich, glaube mir, viel besser.»
Widerwillig hob er seinen fleischigen Arm und streckte mir die rechte Hand entgegen.
«Haben wir noch die Kopie?», fragte ich Myson, der ruhig neben mir stand. Er nickte, zog das Duplikat aus einem Beutel, den er am Gürtel trug, und reichte es mir herüber. Ich hielt die Ringe nebeneinander. Obwohl Raios für das Duplikat Bronze und einen schwarzen Kiesel verwendet hatte, war die Ähnlichkeit verblüffend.
«Zieh ihn aus und gibt ihn mir», wies ich Hermogenes an,
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