Mord im Garten des Sokrates
also bist Lysippos», sagte ich, als ich zusammen mit Myson in die Zelle trat. Er war längst eine unentbehrliche Hilfe für mich geworden.
Lysippos antwortete nicht. Böse betrachtete er mich aus funkelnden Augen und verzog keine Miene. Seine Hände waren zu Fäusten geballt.
«Woher hast du das?», fragte ich ihn und zeigte auf seinen
Beinstumpf, «Spartaner? Schwert oder Speer?»
«Was verstehst du schon davon?», bellte er mich an. «Ich war Hoplit. Ein wenig verstehe ich durchaus», entgegnete ich in der Hoffnung, Lysippos’ Vertrauen zu gewinnen.
«Eben», erwiderte er feindlich. «Hoplit, Schwerbewaffneter – reicher Bengel. Was verstehst du schon davon?»
Er wandte sich ab und spuckte verächtlich auf den Boden. Ich wollte ihn ohrfeigen, und eine Ohrfeige hätte er auch verdient. Aber Myson reagierte sofort und fiel mir in den Arm. Er wusste, Lysippos würde uns kaum noch etwas sagen, wenn ich ihn geschlagen hätte. Er sah mich fragend an. Ich nickte, um ihm zu zeigen, dass ich mich beruhigt hatte.
«Du warst also Leichtbewaffneter?» Myson übernahm die Unterhaltung und lächelte Lysippos mit seinen dünnen Lippen an. Ich hatte gar nicht gewusst, was für einen freundlichen Ausdruck sein Gesicht annehmen konnte, wenn es nicht gerade auf ein Papyrus gerichtet war. «Die Leichtbewaffneten werden für den Ausgang der Schlachten immer wichtiger, vor allem in unwegsamem Gelände, nicht?»
Lysippos nickte, immer noch misstrauisch, aber die Spannung in seinem Gesicht wich doch ein wenig.
«… manche Schlachten entscheiden sie sogar ganz», fuhr Myson fort, als wüsste er schon, was da kommen würde. Lysippos nickte wieder.
«Und warst du bei so einer Schlacht, die von den Leichtbewaffneten entschieden wurde, während die Hopliten in Sicherheit waren?» Lysippos sah Myson interessiert an.
«Weiß ich denn wenigstens, wovon ich rede?», fragte der Metöke. Lysippos nickte zum dritten Mal, und damit wich die Spannung vollständig aus seinen Zügen. War sein Gesicht gerade noch hart und abweisend, bekam es nun etwas Trauriges und Schwermütiges – einen Ausdruck, wie man ihn bei Trinkern oft sieht, wenn sie nach einem halben Krug Wein von ihrem traurigen Leben oder ihren Familien zu erzählen beginnen.
«Was war das für eine Schlacht?», fragte Myson.
«Was verstehst du davon?», antwortete Lysippos, aber das klang längst nicht so verächtlich, wie er gerade noch mit mir gesprochen hatte. Im Gegenteil, es klang … teilnehmend.
«Oh, ich war Leichtbewaffneter wie du», antwortete Myson. Er schien mit einem Freund zu sprechen. «Natürlich als ich noch jung und gesund genug war, um zu kämpfen. Athen ruft auch seine Ausländer zu den Waffen. Wir kämpfen für Athen, aber das Bürgerrecht verleiht die Stadt uns trotzdem nicht.» Myson verstummte, und einen Moment nahm sein reifes Gesicht beinahe den gleichen wehmütigen Ausdruck an wie das des Lysippos. Beschämt musste ich mir eingestehen, nie darüber nachgedacht zu haben, ob Myson im Krieg gewesen sein könnte oder ob er darunter litt, kein Vollbürger zu sein.
«Pylos», sagte Lysippos in die Stille. «Ich war in Pylos.»
Myson schwieg verständnisvoll und tippte ihm auf die Schulter.
Ich betrachtete Lysippos genau. Log er oder sagte er die Wahrheit? Pylos stand für einen der größten Siege Athens und Niederlagen Spartas. Dort waren im siebten Kriegsjahr einige hundert spartanische Hopliten von Athener Leichtbewaffneten eingekreist und niedergeworfen worden: von den Leichtbewaffneten, also den Armen, die sich keine Hoplitenrüstung leisten konnten und nur mir Pfeil und Bogen, einem Knüppel oder einer Axt kämpften oder manchmal auch nur mit den Steinen, die sie zu ihren Füßen fanden. –
Nachdem mehr als ein Viertel der Spartaner gefallen war, haben sich die restlichen Soldaten ergeben. Man wollte es auf der Athener Agora gar nicht glauben, als die Nachricht ihren Weg in die Heimat fand. Besiegt von Leichtbewaffneten, von Hungerleidern? Spartanische Soldaten? Niemals! Das war unerhört.
Die Athener sind an sich ein eitles und leichtgläubiges Volk, aber dass sich ein spartanischer Hoplit einem leichtbewaffneten Athener ergeben könnte … das war denn doch zu viel. Hatten nicht eine Handvoll Spartaner unter ihrem König Leonidas das gesamte persische Heer am Thermophylen-Pass aufgehalten? Und die gleichen Spartaner sollten sich unseren Kleinbürgern, Tagelöhnern und Metöken ergeben haben? Ein Scherz!
Aber niemand scherzte. So war es
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