Mord im Garten des Sokrates
Dorthin lenkte ich unseren Weg. Ich wollte mit Lykon sprechen und benötigte Ruhe und Schatten.
«Du hast Kritias gegrüßt», bemerkte ich, nachdem wir uns im Schutz der Bäume niedergelassen hatten.
«Ja», sagte Lykon.
«Ich hatte neulich schon bei Perianders Elternhaus den Eindruck, du würdest ihn kennen. Habe ich recht, kennst du ihn?», wollte ich wissen.
«Aber nein, Niko, woher denn?», antwortete er unwillig. «Was hast du nur immer mit diesem Kritias? Du benimmst dich schon wie dein eifersüchtiges Weib, über das du dich sonst immer beschwerst.»
«Ich bin nicht eifersüchtig», antwortete ich und bemühte mich, freundlich zu sein. «Ich habe dir noch nie vorgeschrieben, mit wem du dich abgeben sollst und mit wem nicht. Aber Kritias ist gefährlich …»
Lykon hielt sein Gesicht von mir abgewandt. Seine Züge waren trotzig und verschlossen. Er hörte mir nicht zu. Auch das gehörte wohl zu dem Alter, in dem er sich gerade befand: zu jener Schwelle zwischen dem Knaben- und dem Mannsein, auf der man sich an einem Tag schon erwachsen und am nächsten Tag wieder kindlich wähnt und dabei vor allem immer töricht ist. Ich betrachtete sein Gesicht. Blauschwarze Locken, hell und großporig die Haut, dunkle, große, von dichten Wimpern eingerahmte Augen, hohe Wangenknochen, die zu einer kleinen Nase wiesen. Hübsch war er, ohne Zweifel, wahrscheinlich zu hübsch. Es fiel ihm zu leicht, die Herzen für sich einzunehmen, deswegen waren sie ihm am Ende zu wenig wert.
Wir saßen und schwiegen und waren uns fremd. Da ertönte nicht weit von unserem Platz mit einem Mal zarte Musik, eine Flöte und eine Leier stimmten eine schlichte Melodie an. Wie wir hatten die unbekannten Musiker Schutz vor der Mittagsglut im Schatten der Kiefern gesucht, und nun spielten sie den Bäumen zum Dank auf.
«Ich habe dich lange nicht mehr auf der Flöte spielen hören», stellte ich fest. Lykon war ein sehr begabter Flötenspieler. Das Instrument Pans war ihm wie eine zweite Stimme, während es mir kaum je gelungen war, auch nur einen reinen Ton aus ihm herauszubringen.
«Ich fasse die Flöte nicht mehr so oft an», entgegnete er. «Das ist für Kinder.»
«Du hast gut gespielt. Es wäre schade, wenn du es aufgeben würdest.»
Lykon zuckte mit den Schultern.
«Weißt du, dass ich Sokrates kennengelernt habe?», fragte ich ihn, um das Thema zu wechseln.
«Den alten Spinner?», fragte Lykon trotzig.
«Das ist ganz und gar kein alter Spinner», antwortete ich. «Er ist ein bemerkenswerter Mensch. Du solltest ihn einmal treffen.»
«Mein Vater hat mir geraten, mich von ihm fernzuhalten. Er sagt, er verderbe die Jugend und werde ein schlechtes Ende nehmen», antwortete Lykon.
«Du weißt, ich möchte nicht, dass du etwas gegen den Willen deines Vaters tust, aber ich denke, Sokrates ist wirklich ein besonderer Mann. Wenn du ihn treffen möchtest, könnte ich mit deinem Vater reden.»
Lykon schüttelte den Kopf und sah in die Richtung, aus der die Musik kam. Ich konnte ihn nicht erreichen. Um uns zu versöhnen, setzte ich mich näher zu ihm hin und streichelte ihm zart über Schläfe und Wange, aber sein Gesicht blieb genauso abweisend wie bisher. In einem letzten Versuch, ihn zu gewinnen, küsste ich ihn auf die Stirn. Er blieb kalt, kaum sah er mir ehrlich und gerade ins Gesicht.
«Wenn du gar nicht bei mir sein möchtest, wieso hast du mich dann gesucht?», fragte ich ihn, nachdem mir klar war, dass ich ihn heute nicht mehr für mich würde einnehmen können.
«Ich weiß es nicht», antwortete er. «Es liegt nicht an dir.»
«Was willst du noch von mir?», fragte ich, und es fiel mir weder schwer, diese Frage zu stellen, noch würde es mir schwerfallen, die Antwort zu ertragen. Der Bruch zwischen uns lag unangekündigt, aber klar zutage, man musste ihn nur noch beim Namen nennen. Aber das wagte Lykon nicht; er log, er wisse es nicht, und seine Stimme klang hohl dabei.
Ich setzte mich ein Stück von ihm weg. Die unbekannten Musiker stimmten eine neue Melodie an, ein bekanntes Trinkund Liebeslied, halb Athen sang es. Lykon blieb weiter mit dem Rücken an seinen Baumstamm gelehnt. Er hielt die Augen geschlossen. Ich fühlte mich völlig unbeteiligt.
Nachdem das Lied zu Ende war, stand ich auf und schlug den Staub von meinen Kleidern.
«Leb wohl, Lykon», sagte ich zum Abschied, «ich möchte dich nicht mehr wiedersehen.» Ich betrachtete ihn gelassen. Er nickte. Eine einsame Träne fand den Weg durch seine Lider, aber ich war sicher, es würde
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