Mord im Garten des Sokrates
sehen. Dann führte ich den Verletzten in die Kanzlei, wo er sich auf eine Bank setzen und ich ihm einen Krug Wasser bringen konnte. Er trank hastig, fast verzweifelt. In seinem Habichtgesicht stand die Angst; seine Haut war bleich und aschfahl.
«Geht es wieder?», fragte ich ihn, als er den Krug fast völlig geleert hatte. Sein Chiton klebte ihm am ganzen Körper.
«Geht», antwortete er, «geht.»
Ich riet ihm, nach Hause zu gehen, wo er sich waschen und ausruhen konnte, und bot ihm an, ihn zu begleiten. Myson wehrte ein wenig verlegen ab, aber ich bestand darauf, und er war zu schwach, als dass er sich hätte durchsetzen können. Ich konnte ihn auch nicht guten Gewissens allein gehen lassen. Kurze Zeit darauf verließen wir gemeinsam die Kaserne, von wo aus er unsere Schritte in Richtung Pnyx lenkte.
«Ich weiß gar nicht, wo du wohnst», stellte ich fest, während wir durch die engen Straßen des Viertels gingen.
«Nein», antwortete er, «du hast mich nie gefragt.» Immer noch hielt er sich die Hände schützend vor seinem Hals. Plötzlich überkam ihn ein bellender und heiserer Husten. Ich legte ihm beruhigend die Hand auf den Rücken, aber er entzog sich. Er war zu stolz, um sich von mir helfen zu lassen.
«Soll ich einen Arzt rufen?», fragte ich meinen alten Schreiber, nachdem er sich auf den Boden gesetzt hatte und der Husten allmählich nachließ.
«Nein, lass nur», antwortete er.
Als er nach einer ganzen Weile wieder auf die Beine gekommen war, gingen wir schweigend weiter. Unser Weg führte uns um den Hügel Pnyx herum, vorbei an der Kleons-Mauer bis zu einem ärmlichen Viertel am Stadtrand, das ich sonst nie betrat. Niedrige und schmutzige Lehmziegelhäuser standen eng beieinander, keinen Kalk und keinen Tropfen Farbe an den Mauern. Die Gassen waren voller Unrat, der in der Hitze faulte. Es stank. Eine Schar Kinder trieb einen altersschwachen Hund vor sich her.
«Wieso wird der Müll hier nicht weggeräumt?», fragte ich empört. «Jahr für Jahr wählen wir einen Bürger, der für die Sauberkeit verantwortlich ist und gut bezahlt wird. Warum lässt er dieses Viertel so verkommen?»
«Willst du wirklich eine Antwort?», fragte Myson.
«Sicher», entgegnete ich.
«Weil hier nur Metöken leben und ein Athener Bürger nie hierher kommt», erwiderte Myson und blickte zu Boden, als schämte er sich. Wie sehr war der alte Schreiber mit einem Male verändert! Wieso schämte er sich für etwas, wofür er nichts konnte?
Ich blieb stehen und sah ihn an. Was wusste ich von ihm? Kaum mehr, als dass seine Eltern aus Pella stammten und er schon als Kind mit ihnen hierher gekommen war. Er war also in Athen aufgewachsen und – wie mir heute klar geworden war – auch für Athen in den Krieg gezogen. Aber er musste ein Fremder bleiben, und obwohl er zu den geschicktesten Schreibern gehörte, die ich kannte, lebte er hier in einem Armenviertel zwischen Schmutz und Unrat.
«Es tut mir leid, wenn ich dich beleidigt habe, Nikomachos. Verzeih einem alten Mann», sagte er, als er bemerkte, wie ich ihn anstarrte.
«Nein, Myson. Ich habe dich um Verzeihung zu bitten. Ich muss gestehen, ich wusste nicht, wie es euch hier geht. »
Myson brachte mich ein paar Straßen weiter. Dann, neben der Stadtmauer, nicht weit von der Stelle entfernt, wo die Mauer nach dem alten Hafen Phaleron ihren Ausgang nimmt, blieb er stehen und zeigte auf ein bescheidenes Lehmhäuschen.
«Wir sind da, Herr. Hier wohne ich.»
«Hast du eine Frau?», fragte ich, als er die Tür geöffnet hatte und wir eintreten konnten.
«Nein, nicht mehr», antwortete er, und er klang betrübt dabei. «Sie ist vor ein paar Jahren gestorben.»
«Das tut mir leid.»
Myson zuckte die Schultern. «Wir haben uns eigentlich immer gestritten», sagte er, «aber jetzt fehlt sie mir doch.»
Die Haustür führte unmittelbar in einen Wohnraum, der bescheiden möbliert, aber peinlich sauber war. In der Mitte stand ein einfacher Tisch. Wie in der Kanzlei lagen zwei offene Buchrollen und Schreibwerkzeug darauf.
«Was schreibst du?», fragte ich Myson und deutete auf die Bücher.
«Nichts weiter, das ist nur eine kleine Zusatzarbeit. Ich schreibe ins Reine. So verdiene ich mir etwas dazu.»
«Und woran arbeitest du gerade?»
«Es ist ein Geschichtsbuch, schau es dir an», antwortete er, während er einen Wandschirm aufstellte, um sich an seinem Tonzuber zu waschen.
Ich nahm die Buchrolle auf und suchte nach dem Titel: Der Peloponnesische Krieg, sechstes Buch, beschrieben von
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