Mord im Garten des Sokrates
dich nicht kannte. Das tut mir leid. Ich entschuldige mich.»
Das Gesicht des persischen Kapitäns bekam einen völlig anderen und neuen Ausdruck. War es zuvor mit diesem tausendfach erprobten, orientalischen Lächeln maskiert, mit der der Kapitän jedem Hafenmeister vom Hellespont bis Gibraltar begegnete, so bekam es nun und mit einem Male etwas Verletzliches, Ungeschütztes. Dann spannte sich seine Miene wieder. Er nickte und schwieg, und auch ich hatte nichts weiter zu sagen.
«Du hast einen Athener Arzt an Bord», begann ich nun mein zweites Anliegen vorzubringen, «Hippokrates. Ich muss ihn sprechen.»
«Ich nehme an, ungestört?», fragte der Kapitän. Ich bejahte.
«Dann werde ich ihn für dich rufen. Warte hier.»
Es dauerte nicht lange, bis Hippokrates’ markante Gestalt in der Tür erschien. Er war in einen weiten Leinenmantel gehüllt und trug eine Ledertasche um die Schulter. In der Hand hielt er den Stab, um dessen Ende sich die beiden Schlangen wanden. Als er mich sah, blieb er abrupt stehen und ließ den Stock zornig zu Boden gleiten.
«Ach, du bist es», begrüßte er mich in unfreundlichem Ton. «Ich habe mich schon gewundert, welchen hohen Besuch ich im Moment meiner Abreise noch bekommen würde. Du willst dich wohl persönlich davon überzeugen, dass ich die Stadt verlasse? Keine Sorge, ich bin auf dem Weg!»
Kaum hatte er dies gesagt, machte Hippokrates auf dem Absatz kehrt und ließ mich stehen. Ich eilte ihm hinterher und hielt ihn an der Schulter fest.
«Halt, warte, Hippokrates, du musst mir glauben: Ich habe nichts mit deiner Verbannung zu tun, ich schwöre es!», beteuerte ich. Er zögerte und drehte sich zu mir. Er hatte die Kajüte verlassen, und das Licht fiel ihm nun ins Gesicht. Er war müde. Die Falten zwischen Nase und Wangen wirkten tiefer und dunkler als noch vor Tagen.
«Was willst du?», fragte er.
Ich bat ihn in die Kajüte zurück. Hier waren wir allein.
«Also?», fragte er.
«Ich möchte», begann ich zögernd, «dass du mir noch einmal sagst, woran Periander gestorben ist. Sag mir, was du in Athen nicht offen aussprechen sollst.»
Hippokrates lachte auf.
«Aber das weißt du ebenso gut wie ich», antwortete er. «Du warst bei der Leichenschau dabei, wenn ich mich nicht täusche und du keinen Zwilling hast. Was fragst du also?»
«Ich muss es einfach noch einmal von dir hören», antwortete ich. «Ich möchte wissen, ob der Papyrus, den du aus Perianders Mund gezogen hast, vielleicht einfach nur ein Knebel gewesen sein könnte, an dem er unglücklich erstickt ist …»
Hippokrates blieb einen Augenblick still, schloss die Augen und wiegte den Kopf.
«Ach, so wollen sie es also darstellen … Und deswegen müssen sie mich loswerden», sagte er wie zu sich selbst – eine Art zu sprechen, wie sie mir schon bei unserer ersten Begegnung aufgefallen war.
«Hör zu, Toxotes» richtete er Wort und Blick wieder an mich und unterstrich alles, was er nun sagte, mit eindrucksvollen Gesten, «erinnerst du dich an das Instrument, das ich benutzt habe, um den Papyrus aus dem Rachen des Toten zu lösen? Das war meine große Pinzette, ein sehr wichtiges Gerät in meinem Beruf. Diese Pinzette misst zwei Handbreit.» Er zeigte mir die Länge mit seinen Zeigefingern. «Ich musste sie vollständig in den Rachen unserer Leiche einführen, um den Papyrus greifen zu können.» Er zeigte mit dem Finger in seinen Mund. «Das heißt, ich war um etwas mehr als zwei Handbreit in der Kehle der Leiche. Kannst du mir folgen? Gut. Der Papyrus steckte ganz tief im Rachen unseres armen Opfers, hinter dem Punkt, wo Luftröhre und Speiseröhre sich teilen.»
Er deutete auf seinen Kehlkopf, damit mir möglichst klar war, wovon er sprach. Ich nickte. Er fuhr fort.
«Es ist ausgeschlossen, dass er den Papyrus bis dorthin verschluckt haben könnte. Weißt du, warum?» Ich verneinte pflichtschuldig.
«Ganz einfach: Der Mensch kann mit der Luftröhre nicht schlucken! Man hat ihn also nicht nur geknebelt, mein Freund, sondern ihm ein fast faustgroßes», er zeigte die Faust, «zusammengeknülltes Blatt in den Mund gesteckt, es tief in seinen Hals gedrückt und ihn damit erstickt.» Er legte seine Fäuste übereinander und drehte sie in die jeweils entgegengesetzte Richtung: so wie man einem Huhn den Hals umdrehen würde. Hippokrates nickte und presste die Lippen trotzig aneinander.
«Und du bist ganz sicher?»
«Ganz sicher», entgegnete der Arzt, «und selbst wenn ich es nicht wäre! Überlege einfach nur, wieso ich
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