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Mord im Garten des Sokrates

Mord im Garten des Sokrates

Titel: Mord im Garten des Sokrates Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Berst
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einhielt. Er rollte die Papyri zusammen und reihte sie nebeneinander auf, spitzte die Schreibhalme mit einem kleinen, scharfen Messerchen und legte auch diese Seite an Seite. Erst dann ging er nach Hause. Myson war also schon fort. Halb bedauerte ich es, halb war ich erleichtert.
Ich führte Chilon in den Gang hinter der Schreibstube und war erstaunt, vor unserer Arrestzelle keine Wache mehr zu sehen. Die Tür zur Zelle stand offen. Das Stroh, das zum Schlafen diente und sonst in der hinteren Ecke lag, war über den ganzen Boden verteilt. Die Zelle war leer.
«Komm mit, schnell!», befahl ich Chilon und lief zur Eingangshalle zurück. Die Soldaten schreckten auf, als wir angerannt kamen, und wollten schon nach den Waffen greifen. «Wo ist der Gefangene?», schrie ich in heller Aufregung. «Im Gefängnis!», schallte es wie aus einer Kehle zurück.
«Gott sei Dank!», stammelte ich und blieb atemlos stehen. Mir war, als hätte mein Herz aufgehört zu schlagen. Dafür hämmerte es jetzt wie eine Kriegstrommel.
«Wer hat das angeordnet?», fragte ich.
«Myson», antwortete der älteste und ranghöchste von ihnen verlegen, «er sagte, du hättest …»
« … es befohlen?», vervollständigte ich den Satz.
«Ja, Hauptmann», bestätigte er verlegen und entschuldigend.
Ich ließ die Männer in der Kaserne zurück und machte mich mit Chilon auf den Weg zum Gefängnis. Natürlich hätten sie gerne gewusst, was es mit dem Gefangenen auf sich hatte und wieso ich über seine Verlegung so erstaunt war. Es stand ihnen auf die Stirn geschrieben. Aber keiner wagte zu fragen, und ich sagte nichts weiter dazu.
    Das Gefängnis war nicht weit von unserem Hauptquartier entfernt. Als wir auf die Straße traten, war es dunkel geworden. Vor uns erhob sich der Aresfelsen wie der Rücken eines schlafenden Riesen. In den Häusern waren die Lichter zur Nacht entzündet worden.
    Die Verwaltung des Gefängnisses lag bei mir als dem Hauptmann der Bogenschützen. Es war also nicht schwer für mich, Lysippos aufzusuchen. Und doch war er in jenem Gebäude, das ich nur ab und zu betrat, weniger unter meiner Aufsicht als in der Kaserne, in der ich mich beinahe täglich aufhielt. Ich hatte nicht den geringsten Zweifel, dass genau darin der Grund dafür lag, dass man Lysippos dorthin gebracht hatte. Ich hatte auch keinen Zweifel daran, wer dies in Wirklichkeit befohlen hatte.
    «Warum bist du vorhin so erschrocken?», fragte Chilon, als wir beinahe angekommen waren. «Du sahst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.»
    «Das habe ich auch, Chilon», erwiderte ich. »Ich habe mich selbst als Gespenst gesehen, wenn du verstehst, was ich meine … Ich hatte Angst, der Gefangene wäre geflohen. Das wäre mein Tod gewesen.»
    Chilon nickte. Ich sah es aus dem Augenwinkel und blieb still, bis wir an die Pforte des Gefängnisses kamen.
Das Tor, das zum Innenhof des gedrungenen Kalksteinbaus führte, war geschlossen. Ich schlug mit dem Knauf meines Schwertes gegen das mächtige Eichenportal und wartete eine Weile, bis von drinnen eine schwache Stimme zu hören war, die fragte, wer wir seien und was wir wollten.
«Nikomachos, dein Hauptmann, zum Gefangenen Lysippos», rief ich. Der große Riegel wurde zur Seite geschoben und das schwerfällige Tor mit einem langgezogenen Knarren geöffnet. Ein kleiner Lichtstrahl leuchtete uns entgegen. Er kam aus einer Laterne, die der Wächter in Händen hielt. Chilon zuckte zusammen. Ich hatte vergessen, ihn auf diese Begegnung vorzubereiten, denn Bias bot keinen alltäglichen Anblick. Der Wächter glich mehr einem Waldgeist als einem Mann, ein kleines buckeliges Wesen mit gelben Augen und fratzenhaftem Gesicht. Er wohnte hier zusammen mit einer Frau, einer Zwergin, die ebenso hässlich war wie er, in einem kleinen Nebengebäude und verließ die Gefängnismauern weder bei Tag noch bei Nacht. Wie er mir einmal gestand, hatte er Angst, draußen würde man ihn mit Steinen bewerfen, wie dies wohl schon geschehen war. Bias war also als Wärter ebenso gefangen wie die anderen hier, allerdings konnte er weder auf einen Freispruch hoffen noch von einer Flucht aus diesen Mauern träumen. Trotzdem war er ein freundlicher kleiner Kerl und behandelte die Gefangenen mit Respekt.
«Ah, Hauptmann, komm herein, komm herein», grüßte Bias eilfertig, während sein durch den Buckel verunstalteter Oberkörper auf seinen dünnen Beinchen hin- und herschwankte. «Du willst nach dem Rechten sehen? Das ist gut, komm herein, komm

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