Mord im Garten des Sokrates
hatte, kam ohne die Hilfe eines Chirurgen und geschickten Arztes eben nicht mehr hinaus … Bei solchen Gelegenheiten waren die Honorare des Arztes besonders hoch.
Diesmal aber hüllte sich der Meister in Schweigen und riet Chilon, nicht weiter zu fragen. Es sei das Beste, er wisse von der ganzen Sache nichts. Mit dieser Einschätzung lag Hippokrates auch ganz richtig, denn nur vier Tage später seien wieder zwei Soldaten erschienen, andere diesmal. Chilon war aus dem Zimmer gewiesen worden, um nicht zum Zeugen der Unterhaltung zu werden. Was zwischen den dreien gesprochen wurde, habe er sich aber auch so zusammenreimen können. Denn gleich nach dem Besuch habe Hippokrates ihm eröffnet, er müsse die Stadt verlassen. Vier Tage gab man seinem Lehrer, um seine Angelegenheiten zu regeln. Heute Morgen habe Hippokrates in aller Frühe ein Schiff bestiegen, das ihn nach Byzanz bringen wird. Dort geht es einige Tage vor Anker. Hippokrates möchte einen berühmten Kollegen treffen, dann wird er weiterreisen bis nach Persien, wo er seine Künste mit denen der orientalischen Heiler zu vergleichen hofft.
«Wie sahen die Soldaten aus, kannst du sie beschreiben?», fragte ich Chilon, nachdem er mir dies alles geschildert hatte.
«Einer hat eine Narbe, die ihn völlig entstellt», antwortete er und beschrieb mit einer Bewegung seiner ausgestreckten Hand den Verlauf einer Verletzung, die von der Stirn bis zur Wange reicht und auf ihrem Weg durch das Gesicht die Nase spaltet. Ich wusste, von welchem Soldaten hier die Rede war, und es war nicht schwer, den Grund der Besuche zu erraten. Vor einer Woche war Hippokrates zu dem toten Periander gerufen worden; zusammen hatten wir seine Leiche untersucht. Kaum hatte ich Anaxos davon berichtet und erwähnt, was Hippokrates im Rachen des Toten gefunden hatte, musste Anaxos auch schon alles veranlasst haben, um diesen Zeugen aus der Stadt zu bekommen … Ihm war es von Anfang an nicht darum gegangen, den Täter zu finden und die Hintergründe des Mordes ans Licht der hellenischen Sonne zu bringen. Er wollte nur irgendeinen armen Kerl, den er den Aristokraten Athens als Schuldigen vorführen konnte. Wer weiß, vielleicht wusste Anaxos längst, wer der Täter war, vielleicht steckte er selbst hinter dem Mord oder sein Herr, Alkibiades. Wer kannte schon die Pläne dieser Männer?
«Wann wird das Schiff auslaufen?», fragte ich Chilon.
«Das weiß ich nicht genau», antwortete er und hielt sich die Stirn. Er bekam wohl Kopfschmerzen, wirkte aber allmählich wieder nüchterner. «Als ich Hippokrates heute Morgen an Bord brachte, wartete der Kapitän noch auf eine Gruppe von Passagieren. Er entschuldige sich bei uns und sagte, man habe ihm ausrichten lassen, die Herrschaften hätten noch wichtige Geschäfte zu erledigen. Sie wollten aber spätestens am Nachmittag an Bord kommen. Ich habe mich noch gefragt, was das wohl für Geschäfte sein können – eigentlich haben persische Kaufleute bei uns ja nichts zu suchen.»
«Persische Kaufleute?», wiederholte ich. «Was ist das für ein Schiff, auf dem Hippokrates reisen will?»
«Oh, habe ich das nicht gesagt?», gab Chilon erstaunt zurück. «Es ist dieser persische Frachter, der seit einer Woche im Kantharos liegt.»
Es gibt Augenblicke im Leben, da weiß man genau, was man nun tun soll und was nicht. Man fragt sich nicht, ob das, was man nun vorhat, vernünftig ist. Man steht auf und gehorcht einer inneren Stimme. So einen Moment erlebte ich. Ich wollte, ich musste Hippokrates sehen, und ich wollte, ich musste noch einmal mit dem persischen Kapitän sprechen, dessen Beutel voller Silber mich bei jedem Schritt, den ich ging, störte, und den ich bei mir trug, ohne ihn anzurühren. Ich ging zu Ariadne hinüber und band sie los. Sie schnaubte zu meiner Begrüßung. Schon saß ich auf ihrem kräftigen Rücken. Der Duft des Tieres stieg mir in die Nase. Ich sah nach Chilon. Er hatte sich aufgerafft und war mir ein paar Schritte gefolgt.
«Was wirst du jetzt tun, ohne Hippokrates? Suchst du dir einen anderen Lehrer?», fragte ich den Jungen von meinem Ross herab. Ariadne ging einige Schritte nach hinten und wandte sich von der Terrasse des Asklepieions dem freien Weg zu. Chilon schüttelte den Kopf.
«Nein, keinen anderen Lehrer. Hippokrates hat mich gestern freigesprochen. Ich bin Arzt. Ich werde mir Patienten suchen und hoffen, dass sie meine Behandlung überleben», antwortete er, von der eigenen Kunstfertigkeit offenbar noch nicht ganz
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