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Mord im Garten des Sokrates

Mord im Garten des Sokrates

Titel: Mord im Garten des Sokrates Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Berst
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herein.»
«Nicht nach dem Rechten, Bias, nur nach dem neuen Gefangenen, Lysippos. Sie müssten ihn dir heute gebracht haben», entgegnete ich.
«Lysippos, ja, den haben wir hier gut untergebracht. Kommt nur! Sie haben ihn heute hergeschleppt. Vier Mann haben ihn auf einer Trage hergebracht. Er hat sich nicht gewehrt, und jetzt sitzt er ganz ruhig in seinem Loch», antwortete Bias in dem ihm eigenen Singsang. Er sprang behände zum Hauptgebäude und bedeutete uns, ihm zu folgen.
«Wie macht er sich denn?», fragte ich, als wir ihn eingeholt hatten.
«Früh zu urteilen», antwortete Bias. «Ich war noch gar nicht bei ihm. Aber ich glaube, er ist kein schlechter Kerl. War ganz ruhig und still, wie sie ihn in die Zelle getragen haben. Ganz ruhig und still.»
Bias bog kurz vor der Eingangstür des Hauptgebäudes ab und führte uns eine schmale Treppe hinunter zu den Verliesen. Man hatte Lysippos also in den Kerkern untergebracht. Wir gingen einen stockfinsteren Gang entlang. Bias’ Laterne spendete nur wenig Licht. Endlich standen wir vor einer alten, mit Eisen beschlagenen Tür, die Bias öffnete.
Als der Wärter den Raum ausleuchtete, bot sich uns ein Bild des Jammers. Lysippos kauerte an der Wand und wiegte seinen Oberkörper vor und zurück, vor und zurück. Auf seiner nackten Haut prangten neue Striemen. Man hatte ihn wieder ausgepeitscht. Er summte eine Melodie vor sich hin, die er ständig und scheinbar ohne jede Regung wiederholte. Es war ein Teil eines alten Schlafliedes, mit dem die Ammen die Kinder beruhigten.
«Kannst du ihm helfen?», fragte ich Chilon. Er nickte, nahm seinen Lederbeutel ab und ging ein wenig beklommen auf die geschundene Kreatur zu, die da vor uns saß.
«Sei vorsichtig. Er ist unberechenbar», warnte ich, wodurch Chilons Bewegungen noch zögerlicher wurden.
«Mach mir Licht», bat er Bias, während er sich langsam zu Lysippos hinunterbeugte. Aber Bias hatte sich schon umsichtig hinter den jungen Arzt gestellt und hielt die Laterne so gut es ging über ihn und den Patienten, damit er arbeiten konnte. Sein gnomenhaftes Gesicht war besorgt. Ich sah es selbst im Halbschatten des Laternenlichtes. Auch er hatte diesen Anblick nicht erwartet.
Chilon bat Bias, dem Gefangenen ins Gesicht zu leuchten, und hielt ihn mit beiden Händen fest, damit Lysippos mit dieser eigentümlichen Schaukelbewegung aufhörte. Dann untersuchte Chilon Lysippos’ Augen, seine Ohren, seinen Mund und tastete vorsichtig nach seinem Kinn, dem Kehlkopf und dem Hals. Ich musste unwillkürlich an Hippokrates und die Leichenschau an dem armen Periander denken, denn in Chilons noch etwas unsicheren Bewegungen erkannte ich Hippokrates’ Vorbild ohne Zweifel. Als er mit Gesicht und Hals fertig war, widmete sich Chilon den tiefen, blutverkrusteten Striemen an Lysippos Körper. Mit einer Hand hielt er Lysippos weiterhin fest an die Wand gedrückt, mit der anderen berührte er zaghaft die Haut zwischen den Wunden, sorgfältig darauf achtend, seinem Patienten nicht wehzutun. Aber Lysippos schien ohnehin keinerlei Notiz von ihm oder der Untersuchung zu nehmen. Als Chilon ihn losließ, begann er nur wieder seinen Oberkörper hin- und herzuwiegen und die immer gleiche Strophe des eintönigen Kinderliedes zu summen.
Zuletzt untersuchte Chilon Lysippos’ Beine und seinen Fuß. Plötzlich brüllte der vor Schmerz auf. Wir erschraken alle.
«Oh Gott!», rief Chilon entsetzt und winkte mich zu sich. Ich trat näher, Bias hielt sein Gesicht abgewandt. Das fahle Licht der Laterne zeigte mir den Grund: Lysippos’ rechter Fuß – oder vielmehr das, was Anaxos und sein Folterknecht davon übriggelassen hatten.
Chilon besann sich einen Moment, atmete tief durch und zog seinen Lederbeutel zu sich, dem er zwei gebogene Schienen, einen Lederriemen, einen Tontiegel und eine Verbandsrolle entnahm. Ich musste mich neben Lysippos setzen und mit ganzer Kraft seine Beine festhalten, während Chilon den verdreht stehenden Fuß zunächst sorgfältig mit einer fetten, weißen Paste einschmierte, ihn dann zart in die Hand nahm, um ihn plötzlich und unter einem ohrenbetäubenden Schmerzensschrei aus Lysippos’ Munde wieder in die richtige Position zu drehen.
«Du kannst ihn loslassen», sagte Chilon, nachdem das Gelenk eingerenkt war, «er wehrt sich jetzt nicht mehr.»
Ich lockerte meinen Griff. Lysippos strampelte und schrie nicht mehr. Er war vor Schmerz in Ohnmacht gefallen.
Chilon legte den geschundenen und blutenden Fuß zwischen die Schienen und

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