Mord im Garten des Sokrates
sich und fragte mich, was ich wünschte.
«Ich möchte deinen Herrn Aristokles sprechen», antwortete ich. Der alte Mann wiegte den Kopf, ja den halben Oberkörper hin und her und entschuldigte sich umständlich. Es tue ihm leid, aber der junge Herr sei krank, ernsthaft krank. Gegen Mittag sei er nach Hause zurückgekommen, mit fiebrigen Augen und heißer Stirn. Er habe sich sofort hingelegt und doch den ganzen Nachmittag über keine Ruhe gefunden. Jetzt schlafe er endlich. Bitte, er wolle seinen kranken Herrn nicht stören und wecken müssen. Ob ich ihm dies wohl nachsähe?
«Es tut mir leid, dass dein Herr krank ist», antwortete ich, «der Tod seines Freundes geht ihm wohl nahe?»
Der Alte sah nach allen Seiten. Er wollte nicht gesehen werden, wie er mit mir sprach. Dann kam er einen Schritt näher.
«Ja, es geht ihm sehr nahe, viel zu sehr», sagte er wispernd. «Man kennt ihn gar nicht wieder. Er isst nicht mehr und trinkt nicht mehr. Er ist schon ganz dünn geworden. Er war so fröhlich früher, mein armer Herr.»
Ich bat den Sklaven, Platon zu sagen, dass ich hier gewesen sei und gute Besserung wünsche. Ich war schon im Begriff zu gehen, als ich – einer plötzlich Eingebung folgend – nach Glaukon fragte.
«Meines Herrn Bruder?», vergewisserte sich der kleine Sklave. Ich nickte. Zeigte das Gesicht des kleinen Mannes Abneigung, oder bildete ich mir das ein?
«Er wohnt nicht hier bei uns. Sicher findet ihr ihn auf dem Landsitz seines Onkels. Dort verbringt er meist den Sommer.»
«Du meinst seinen Onkel Kritias?»
«Ja», entgegnete der Sklave leise, und diesmal war ich sicher: Es war Widerwillen, der seiner Stimme nun den kühlen Klang gab.
«Wo ist dieses Landhaus?»
Das sei leicht zu finden, antwortete er: jenseits des Flusses Ilisos an der Straße nach Sunion, nicht weit vom Gymnasion entfernt …
«Aber was ist mit euch, Herr, ihr seid ja ganz weiß im Gesicht!», hörte ich ihn plötzlich sagen, so erschrocken musste ich mit einem Male ausgesehen haben, und so erschrocken war ich auch, denn wie von selbst fügten sich ein paar Steine meines Mosaiks zusammen. Ein Haus an der Straße nach Sunion – Kritias’ Haus. Wieso hatte ich denn nicht schon früher daran gedacht?
Es war noch Zeit. Ich verabschiedete mich von Platons Haussklaven, bat ihn noch einmal, seinem Herrn gute Besserung zu wünschen, und machte mich auf den Weg zum Gymnasion. Es war ein gutes Stück zu gehen, aber ich würde sicher noch bei Tageslicht da sein. Der kürzeste Weg verlief die Stadtmauern entlang in Richtung Olympieion. Unmittelbar davor begann die Straße, die zum Gymnasion führt, an einem leider allzu bekannten Ort: dem Itonia-Tor.
Nachdem ich den Ilisos überquert hatte – kaum mehr als ein stinkendes Rinnsal in diesem trockenen Sommer –, hielt ich mich vorsichtig am Straßenrand, vermied den Blick der Passanten und verbarg Kopf und Gesicht, so gut es ging. Um das Gymnasion machte ich einen großen Bogen, um nicht zufällig auf jemanden zu treffen, der mich erkennen konnte. Zwei Stadien dahinter sah ich endlich ein reiches, gelb leuchtendes, von einer gewaltigen Bruchsteinmauer umgebenes Gebäude. Das musste Kritias’ Haus sein.
Am Haupttor wartete ein mit Schild und Speer bewaffneter Sklave mit grimmigem Gesicht. Noch bevor er mich sehen konnte, schlug ich mich in ein Gebüsch und drückte mich an der Mauer entlang bis zur Rückseite des Anwesens, wo mir eine alte Steineiche den Weg versperrte. Augenscheinlich hatten die Baumeister die Kraft dieses Baumes unterschätzt, denn seine dicken Wurzeln bohrten sich wie Finger einer Titanenhand in die Mauer und drohten sie zu sprengen.
Ein solider Ast der Eiche reichte auf Mannshöhe herunter. Ich stieg auf eine Wurzel, ergriff ihn und kletterte mit ein wenig Mühe in das Geäst. Nachdem ich Halt gefunden hatte, drehte ich mich um. Von der Krone des Baumes aus waren Kritias’ Garten und die Rückseite des Hauses vollkommen zu überblicken, während man selbst im dichten Laub verborgen blieb.
War Kritias auch ein Oligarch, so waren spartanische Zucht und Genügsamkeit ganz offensichtlich nicht nach seinem Geschmack. In seinem Garten stolzierten Pfauen zwischen den Gräsern, ein Leopard an einer silbernen Kette schlummerte im Schatten eines Lorbeerbaums, zwei Springbrunnen spendeten Wasser. Vor dem Haus hatte Kritias zum Schutz vor der Sonne ein gewaltiges Segel über die Terrasse spannen lassen, das nun Schatten spendete. Liegen gruppierten sich um einen gedeckten Tisch,
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