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Mord im Garten des Sokrates

Mord im Garten des Sokrates

Titel: Mord im Garten des Sokrates Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Berst
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Rachen vor meinen Augen Gestalt anzunehmen, und zwar mit eben diesem Schwung, mit dieser leichten und regelmäßigen Neigung nach links, mit eben diesen klar gezeichneten und stets zu unterscheidenden Buchstaben … Oder sah ich nur eine der Kopien, die Myson gefertigt hatte, vor meinem inneren Auge?
«Was tust du da, Herr?» Es war Myson Stimme, die mich aus meinem Grübeleien riss. Er stand plötzlich hinter mir. Ich hatte ihn nicht kommen hören. «Ist irgendetwas mit dem Inventar nicht in Ordnung?», fragte er und betrachtete mich misstrauisch.
«Nein, nein», wehrte ich ab, «ich wollte nur etwas nachsehen, kein Grund zur Sorge.»
«Du hättest mich nur fragen müssen», sagte er. Unschlüssig blieb er im Raum stehen. Sein altes Gesicht wirkte angespannt. «Ich wollte nur etwas nachsehen», log ich und rollte den Papyrus unschlüssig wieder zusammen.
Myson nickte und schwieg. Ich erhob mich von seinem Platz und bat ihn, sich zu setzen.
«Du warst bei Lysippos?», fragte ich beiläufig.
«Ich habe nach ihm gefragt», antwortete er.
«Warum?»
Er zuckte mit den Schultern, entrollte die Liste wieder und nahm einen Schreibhalm, den er langsam in das Tintenfass tauchte. Aber er arbeitete nicht weiter. Er blieb bewegungslos sitzen und starrte auf das Dokument. Wie er im Gegenlicht so vor mir saß, hatte er etwas von einem alten, müden Raubvogel.
«Wenn du etwas wissen möchtest, musst du mich nur fragen, Herr», sagte er noch einmal, ohne aufzusehen. Ich zögerte. Dann platzte es aus mir heraus.
«Wie hat Anaxos so schnell von Lysippos’ Verhaftung erfahren können?»
Lysippos wandte mir sein müdes Vogelgesicht zu. Er zeigte einen bitteren Zug um die Lippen.
«Ohne Zweifel gibt es einen Spion bei uns», antwortete er. Er wusste, dass ich ihn verdächtigte. Es war herauszuhören aus dem traurigen Ton, in dem er mir antwortete. Ich ging hinaus; irgendetwas lag in der Luft, und ich konnte es nicht ertragen.
Am Nachmittag kamen einige Unteroffiziere zu mir, und gemeinsam beschäftigten wir uns mit der Vorbereitung der Versammlung. Wir hatten den Auftrag bekommen, dafür zu sorgen, dass alle Bürger, die sich ihr Sitzungsgeld abgeholt hatten, auch auf der Pnyx blieben. Es gab nämlich immer wieder Athener, die sich für die Sitzung einschrieben und ihr Tagegeld kassierten, sich aber anschließend lieber in den Straßen herumtrieben, anstatt ihren Ratspflichten nachzukommen. Hiergegen sollten wir etwas unternehmen. Wir überlegten lange, was wir tun könnten. Schließlich hatte ein junger Unteroffizier die rettende Idee. Wir beschlossen, jedem, der sich seinen Obolus abgeholt hatte, einen roten Kreidestrich auf den Chiton zu zeichnen. Die Farbe war kräftig genug, dass sie sich nicht so einfach abwischen ließ. Wir mussten dann nur noch bei den Patrouillen die Augen offen halten. Hatte jemand Farbe am Gewand, hatte er in der Stadt nichts verloren, und wir konnten ihn auf die Pnyx zurücktreiben!
Die Planungen lenkten mich den Nachmittag über ab. Wir lachten bei der Vorstellung, ein paar Tagediebe mit den Weideruten zur Versammlung zu treiben, damit sie sich ihr Sitzungsgeld auch verdienten. Sobald sich meine Offiziere aber verabschiedet hatten, kehrten meine Gedanken wieder zu Periander zurück, und irgendwann stand ich wieder in seinem Zimmer, in jener kargen Zelle, in der sein lebloser Körper vor mir gelegen hatte. Ein schlichter, ein allzu schlichter Raum war das gewesen. Mochte auch das etwas bedeuten? War dieser Verzicht auf bequeme Möbel und schöne Dinge Teil der Zucht, die Periander sich auferlegte? Teil einer Lebensweise, die das oligarchische und jeder Zucht ergebene Sparta zum Vorbild hatte, Athens hellenischen Bruder- und Feindesstaat?
Es gab nur einen, der mir diese Fragen beantworten konnte. Ich musste noch einmal zu Platon, auch wenn ich dadurch wieder in den Dunstkreis einer Familie käme, deren Macht ohne Zweifel weiter reichte, als es mir lieb sein konnte.
    Der Duft eines nahen Pinienwäldchens lag in der Luft, als ich den Weg zu Platons Villa einschlug. Der Boden war noch warm von der sengenden Sonne, die die Stadt den ganzen Tag wie einen Backofen aufgeheizt hatte. Bald erreichte ich das Tor. Hoffentlich hatte Platon sich in der Zwischenzeit von Sokrates verabschiedet.
    Platons Sklave, der mir schon vor einigen Tagen den Weg zu seinem Hain beschreiben hatte, öffnete. Er war ein kleiner alter Mann mit kurzem, weißem Haar, sonnenverbrannter Haut und Lachfalten um die Augen. Respektvoll verneigte er

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