Mord im Garten des Sokrates
kleiner Ausschnitt verhieß einen blühenden Busen.
«Alles Köstlichkeiten aus Sizilien», sagte Lysias und ließ mir Mandeln, Walnüsse, Feigen, Käse und Pinienkerne auf den Teller legen. Dann reichte er mir eine Schüssel mit dickem Joghurt und einen Topf duftenden Honigs. «Und hier die zwei größten Köstlichkeiten Attikas.»
Ich kostete die edlen Speisen und den frischen Wein, den die hübsche Sklavin schweigend nachschenkte. Dabei war es ein zusätzliches Vergnügen, Lysias beim Essen zuzusehen, so sehr genoss er jeden Bissen.
«Ich weiß», begann er, nachdem er gesättigt schien, und deutete dabei auf die junge Sklavin, die bei unserem Tisch saß, «dass Sokrates weder von den Freuden des Bauches noch von denen des Auges allzu viel hält. Aber ich glaube, dass kein Gott Schönheit und Genuss geschaffen hätte, wenn er nicht auch wollte, dass man sich an ihnen erfreut …»
Ich nickte, mehr vom Anblick der jungen Frau und dem Geschmack des Honigs überzeugt als von Lysias’ Worten.
«Aber alles in Maßen und alles zu seiner Zeit», fuhr er streng fort und klatschte wieder in die Hände. Die Sklavin erhob sich, trug die leeren Teller und Schüsseln ab und verließ uns so schweigend, wie sie bei uns gesessen hatte. Ihre Bewegungen waren leicht und ohne Hast. Ihre Füße schienen den Boden nicht zu berühren.
«Siehst du», sagte Lysias, während mein Blick der schönen Sklavin folgte, «auch dieses zauberhafte Wesen lehrt uns etwas über die Redekunst. Zwei Dinge streng genommen.»
Ich sah ihn verblüfft an.
«Erstens: Was ich zeigen kann, das brauche ich nicht zu erklären …»
«Und zweitens?», fiel ich ihm wohl allzu neugierig ins Wort.
«Zweitens, die Schönheit stimmt uns milde …», antwortete er und trank einen Schluck Wein. Der Duft der schönen Sklavin hing noch in der Luft, ein Geruch nach Rosmarin und Zimt. Ein zarter Windhauch blies die Vorhänge an der Terrassentüre auf wie Segel.
«Lass uns zum Thema kommen», sagte mein Gastgeber und stellte den Becher ab. «Auch das ist eine wichtige Eigenschaft des Redners: Er muss zum Thema kommen. Was weißt du über den Prozess?»
«Nicht viel», antwortete ich entschuldigend. «Die Verhandlung ist für den nächsten Monat angesetzt. Alkibiades hat den Toxotai befohlen, den Areopag zu bewachen. Es bleiben uns nur noch wenige Tage.»
«Und der Ankläger?»
«Ich weiß es nicht.»
«Es ist Kritias. Ich bin sicher», meinte Lysias und wirkte alles andere als fröhlich dabei.
«Ihr kennt euch schon länger?», hakte ich nach.
«Oh ja,» antwortete Lysias, «wie du neulich gehört hast. Wir sind alle Pflanzen aus Sokrates’ Garten … Aber kommen wir zum Prozess. Die Rede ist fertig.» Lysias griff unter sein Kissen und zog eine Schriftrolle hervor, die er mir mit einer verspielten Geste reichte. Ganz offenbar wollte er über Kritias kein weiteres Wort verlieren.
Ich dankte ihm und entrollte das Buch ehrfürchtig – Des Lysippos Apologie –
war die Rede überschrieben.
Dann folgte die Anrede:
Meine hohen Richter, ihr Herren der Stadt, …
Ich begann gespannt zu lesen, aber Lysias hatte eine andere Idee. Er nahm mir die Schriftrolle aus der Hand, erhob sich und ging zum Fenster, um die Vorhänge zu schließen. Dann stellte er sich wie ein Schauspieler vor mich.
«Es ist wichtig, dass dein Lysippos sauber und rasiert ist und ein schlichtes, aber reines Gewand anhat. Es sollte so geknotet sein, dass man seinen Beinstumpf sehen kann. Vielleicht gibst du ihm eine Krücke, auf die er sich stützt. Wenn er sich manchmal hinsetzen muss, um sich vor Erschöpfung auszuruhen, ist das nur von Vorteil. Er kann beim Aufstehen das Gesicht manchmal vor Schmerz verziehen, aber nicht immer, und er darf weder schreien noch jammern. Hast du das verstanden?»
Ich nickte.
«Er muss seine Rede auswendig kennen, aber er beginnt langsam, stockend und schüchtern.» Lysias drückte die Schultern zusammen und nahm eine gebeugte Haltung ein. Dann begann er zu sprechen, leise zunächst, mit jedem Wort ringend, so wie Lysippos es tun sollte. Erst langsam entwickelte seine Stimme Kraft und Leidenschaft. Trotzdem wirkte er stets bescheiden und stets voller Gram um Perianders Tod.
Meine hohen Richter, ihr Herren der Stadt, ich bin meinem Ankläger beinahe dankbar für die harten Worte, mit denen er mit mir ins Gericht geht, führt er damit doch nicht nur euch, sondern vor allem mir selbst vor Augen, wer ich war und was ich war, bevor ich vor euch trat. Und wenn er mich hier
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