Mord im Garten des Sokrates
tun. Aber ein Freund wird dir eine Verteidigungsrede schreiben. Du wirst sie auswendig lernen. Kannst du das?»
«Was soll das nutzen?», fragte er mit vollem Mund, kaute und spuckte abermals aus.
«Ich weiß, dass du unschuldig bist. Du wirst mich als Zeugen rufen. Wir können die Richter überzeugen.»
Lysippos lachte. Es war ein verächtliches, böses Lachen, das den ganzen Raum einnahm.
«Denkst du wirklich, die Richter glauben mir irgendetwas?», fragte er halb erstickt und begann plötzlich zu schluchzen wie ein Kind. Unbeweglich stand ich an der Zellentür und beobachtete, wie er sich wand, wie er weinte. Es stieg keinerlei Mitleid in mir auf. Und ebenso schnell, wie Lysippos zu weinen begonnen hatte, beruhigte er sich wieder. Ohne sich die Tränen oder den Rotz abzuwischen, nahm er den nächsten Bissen von seinem Dörrfleisch, als wäre nichts gewesen.
«Ich werde jetzt gehen», sagte ich, «wenn du etwas brauchst, wende dich an den Wärter. Er wird nach mir schicken, falls es nötig ist.»
«Lass mich hier raus», sagte er leise und versuchte seiner Stimme einen schmeichelnden Klang zu geben. «Du kannst das. Lass die Tür auf und schick den Wärter weg. Ich verschwinde, du siehst mich nie wieder.»
«Noch bevor die Sonne untergeht, wären wir beide tot», antwortete ich und ging hinaus.
«Und du meinst, du kannst mir helfen?», schrie er mir nach. Seine Stimme überschlug sich vor Abscheu. Ich schloss die Tür und legte den Riegel vor.
Der kleine Bias erwartete mich am Tor. Ich verabschiedete mich und bat ihn, auf Lysippos Acht zu geben. Natürlich wollte ich ihm nicht zumuten, sich Anaxos in den Weg zu stellen, falls der mit seinem Folterknecht auftauchte, aber er sollte mich verständigen, und das versprach er mir, auch wenn sein Zwergenkörper bei der Vorstellung, auf die Straße zu treten, zu zittern begann.
Bias schloss den Riegel hinter mir, und ich machte mich auf zur Kaserne. Auch Sokrates hatte eine innere Stimme, auch er. Vielleicht schien er deswegen manchmal so weit weg, so völlig in sich gekehrt, vielleicht sprach er deswegen auch so oft mit sich selbst. Beim Zeus! Hoffentlich droht mir nicht sein Schicksal, und ich fange an, im Winter barfuß in Pfützen herumzustehen … Und doch: gerade im Augenblick hätte ich gerne eine innere Stimme, die mir den Weg zu Perianders Mörder weist. Was wusste ich bis jetzt? Wenig bis nichts. Periander war der geliebte Sohn reicher Eltern, klug und schön. Er hatte viele Freunde, Erfolg, er hatte …? Langsam, hatte er wirklich Freunde? Sicher nicht Charmides und Glaukon. Das waren kein Freunde, sonst hätten sie einen Tag nach seinem Tod kein Fest gefeiert. Was aber war mit Platon? Er litt unter Perianders Tod, das war sicher. Er war sein Geliebter, aber war er damit auch sein Freund? Ist man einander denn Freund, wenn man einander liebt? Und wieso hatte Platon mir so wenig helfen wollen? Wenn er Periander liebte, musste er dann nicht wünschen, dass der Mörder gefunden und hingerichtet würde? Müsste er nicht sogar wünschen, ihn zu töten? Ich musste noch einmal mit ihm sprechen. Das war sicher.
Ich ging zur Kaserne zurück und war froh, Myson nicht in der Schreibstube zu treffen. Ich wollte ihn nicht sehen und versuchte, mich anderen Dingen zu widmen. Nächste Woche war eine Versammlung auf der Pnyx, die ich vorbereiten sollte. Ich ging in mein Arbeitszimmer, aber ich fand keine Ruhe. Ich lief auf und ab, auf und ab. Irgendwann zog es mich in die Schreibstube. Mysons Tisch war aufgeräumt wie immer. Papyrusrollen, Tinte und Schreibhalme lagen in vollkommener Ordnung. Ich nahm einen beschriebenen Papyrus und sah ihn mir an. Es war eine Aufstellung unseres Lagerbestands, nichts Bedeutendes, ein einfaches Inventar. Ich bewunderte Mysons Schrift, jeder Buchstabe hatte den gleichen feinen Schwung, die gleiche leichte Neigung, und , und blieben stets leicht zu unterscheiden. Die Schrift eines geübten Kalligraphen, eines routinierten Kanzlisten. Ich biss mir auf die Lippen. Waren diese Buchstaben der Schrift, in welcher die
geschrieben war, nicht doch zu ähnlich? Ich hätte die Papyri gerne nebeneinandergelegt und genauer verglichen, aber Anaxos besaß das Original, und er hatte es nicht behalten, um es mir bei nächster Gelegenheit wiederzugeben. Ich versuchte, mich an das Bild der Buchstaben auf dem fatalen Dokument zu erinnern. Je länger ich mir das von Myson errichtete Inventar vor die Augen hielt, desto mehr schien auch jener Papyrus aus Perianders
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