Mord im Garten des Sokrates
war. Wieso kann ich nicht einfach nur eine Versammlung über den Getreidepreis leiten und nicht diese Vollversammlung über Krieg und Frieden? Es war, als wäre ihm die Frage auf die Stirn geschrieben.
«Mitbürger», sagte er kaum hörbar, «wenn ich euch richtig verstanden habe, dann wollt ihr das Friedensangebot Spartas nicht annehmen.»
«Lauter!!», brüllten die Männer von den hinteren Reihen.
«Ich sagte: Wenn ich euch richtig verstanden habe, dann wollt ihr das Friedensangebot Spartas nicht annehmen!», wiederholte Theodoros. Seine Stimme überschlug sich bei beinahe jedem Wort.
«Gut erkannt!», kam es von irgendwoher zurück, und die Pnyx erschallte vom Lachen der Versammlung.
«Die Frage ist aber, was wir ihnen antworten sollen», fuhr Theodoros fort, nachdem es wieder leiser geworden war. Beruhigend versuchte er die Hände zu heben, aber sie zitterten ebenso wie seine Stimme.
«Lauter, wir verstehen nichts!», hörte man es wieder von überall her brüllen.
«Schickt eine Gesandtschaft und ein Gegenangebot!», kam von irgendwoher ein Vorschlag. «Ja, schickt eine Gesandtschaft und ein Gegenangebot», fielen von überall her die Männer ein. Theodoros nickte angestrengt und winkte Theramenes zu sich. Der hatte zwischenzeitlich sein breites Grinsen wiedergefunden und erhob sich von seinem Platz neben Kritias. Noch bevor er die Tribüne betrat, tönte die Forderung aus jedem Winkel: «Gesandtschaft, Gesandtschaft …» Theramenes trat vor die Versammlung und breitete die Arme aus wie ein Vogel die Flügel.
«Freunde, Mitbürger, Athener», rief er, so laut er nur konnte, «wir schicken eine Gesandtschaft und unterbreiten ein Gegenangebot!»
Er hatte das kaum gesagt, als auch schon die Männer um Kritias aufsprangen und laut zu klatschen begannen. «Gesandtschaft, Gesandtschaft …», klang es wie im Chor von allen Seiten.
«Und wir werden ihnen verbieten, über die Langen Mauern auch nur zu sprechen!», fuhr Theramenes fort und ballte die Fäuste. Applaus brandete auf und ergriff den ganzen Hügel. Theramenes reckte die Arme wie ein Sieger in den Himmel und lachte.
An jenem Abend stahl ich mich davon. Es war kurz vor Sonnenuntergang – mit einem Angriff der Spartaner war nicht mehr zu rechnen –, als ich meinen Beobachtungsposten am Tor still und heimlich verließ. Ich lenkte meine Schritte nach Skambodinai, um jenen Jungen zu treffen, der mich vor vier Jahren betrogen und verlassen hatte. Was mochte aus ihm geworden sein? War er noch Kritias’ Geliebter? Hatte jener ihn fallen lassen, als er zum Manne gereift war und den Körper des Knaben verloren hatte, oder hatte Lykon Kritias den Rücken gekehrt, um sich in ein neues Abenteuer zu stürzen, wie er es damals mit mir getan hatte? Beinahe wünschte ich mir, dass auch Kritias’ Geld und Reichtum Lykon nicht zu halten vermocht hatten, wünschte es um meinet- und um seiner Seele willen.
Lykon wohnte in einem der ärmlichsten Viertel Athens. Die Gassen waren schmal. Schmutzige, geduckte Schlammziegelhäuser standen eng beieinander. Ihre Fassaden bröckelten; seit Jahren war keines von ihnen mehr verputzt worden. Es stank nach Unrat und nach Kot.
Der Anblick der Armut, der sich vor mir auftat, rührte mich seltsam an. Lag hier der Schlüssel zu Lykons Wesen? Wie lautete noch jener Satz aus Kritias’ Pamphlet?
Lykons Elternhaus war ebenso schäbig wie die Nachbarhäuser, vielleicht sogar noch ein wenig verkommener. Früher hatte ich ihn hier nie besucht. Obwohl die Liebe zwischen einem Mann und einem Knaben nichts Anrüchiges hat, gilt es doch als unschicklich, wenn der Ältere seinen Liebling unter den Augen seiner Eltern trifft. Würde ich es ertragen, wenn meine Söhne Liebhaber hätten?
Mein Herz pochte vor Aufregung, als ich an das Tor klopfte, aber auch mein Gewissen schlug. Ich hatte Aspasia nicht erzählt, dass ich Lykon treffen wollte, obwohl ich mich seit Langem mit dem Gedanken trug. Sie wäre nicht glücklich, wenn sie wüsste, wo ich nun stand. Ich lauschte, nichts. Das Haus schien leer. Ich klopfte noch einmal, fester und bestimmter. Keine Antwort. Ich wollte schon umkehren, als ich endlich Schritte hörte.
«Wer ist da?», ertönte eine verwaschene Stimme.
«Nikomachos, der Kaufmann!», gab ich zur Antwort.
«Kenne ich nicht! Was willst du?», hörte ich durch die geschlossenen Bretter.
«Du kennst mich, ich war früher Hauptmann der Bogenschützen. Ich wollte Lykon sprechen.»
Die Tür wurde langsam geöffnet. Der Mann dahinter sah mich mit
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