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Mord im Garten des Sokrates

Mord im Garten des Sokrates

Titel: Mord im Garten des Sokrates Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sascha Berst
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munkelten, bei seiner Wahl sei nicht alles mit rechten Dingen zugegangen, ein kleiner und rundlicher Mann, der wie alle kleinen Männer immer viel zu aufrecht ging und dabei seinen Kugelbauch nach vorne schob. Seine Gesicht wirkte freundlich und aufgeweckt; bei näherem Hinsehen fiel einem aber auf, dass seine Lippen immer lächelten und wie in einer Theatermaske erstarrt waren. Er grüßte ein paar Freunde, indem er ihnen auf die Schultern klopfte, und ging zur Tribüne.
    «Liebe Mitbürger und Freunde», begann er und blickte in die Runde, um jedermann seiner Aufmerksamkeit und Zuneigung zu versichern, «Athen erlebt seine schwerste Stunde. Die Stadt ist abgeriegelt. Im Hafen ankert Lysander mit 50 Schiffen, vor den Mauern warten Agis und Pausanias mit der ganzen Armee der Peloponnes auf den Moment zum Angriff. Er kann morgen kommen oder in einem Monat …
    Jetzt hat Sparta uns ein Friedensangebot unterbreitet, das wir beraten sollten. – Ja, es ist richtig: Die Reiter, die ihr gesehen habt, waren Unterhändler. –
    Mitbürger, Athener! Sparta bietet uns den Frieden, aber um einen hohen Preis.» Verstohlen sah er auf ein Blatt, auf dem er sich Notizen gemacht hatte.
    «Erstens: Wir sollen alle unsere Bundesgenossen aus ihrer Pflicht entlassen und durch einen feierlichen Eid Bundesgenossen Spartas werden …»
    Die Athener schüttelten den Kopf, als trauten sie ihre Ohren nicht.
«Zweitens: Wir liefern Sparta die Kasse des Delischen Bundes aus.»
Ein Raunen ging durch die Versammlung. «Was?», brüllten ein paar Kaufleute, «und was bekommen wir dafür?» Theramenes hob beschwichtigend die Hände.
«Ruhig, ruhig, meine Mitbürger. – Drittens: Wir müssen unsere Flotte bis auf zwölf Schiffe auflösen und schwören, nie wieder mehr Schiffe zu besitzen als diese zwölf.»
Das Raunen wurde lauter; schon erhoben sich ein paar Männer, ballten die Fäuste und stießen zornige Verwünschungen aus. «Niemals, das Meer gehört uns!», schrie ein weißhaariger Alter, dem Sonne und Gischt die Haut gegerbt hatten. «Viertens –» Theramenes sah auf und versuchte seinem Gesicht den Ausdruck von Schmerz, ja von tiefster Trauer zu geben, konnte sein dauerndes Lächeln aber kaum unterdrücken.
«Viertens – ihr wisst nicht, wie schwer es mir fällt, dies auch nur auszusprechen –», sagte er, schloss die Augen und erhob in einer zum Himmel gerichteten Geste die Hände. «Viertens: Wir sollen die Langen Mauern niederreißen! Auf einer Länge von mindestens vierzig Stadien.»
Die Vollversammlung verstummte wie auf Kommando. Man hätte eine Nadel fallen hören, so still war plötzlich die Pnyx. Zehntausend Gesichter erstarrten, ungläubig rissen die Männer die Augen auf. Es war, als benötigte jedermann Zeit, um überhaupt zu begreifen, was da von uns verlangt wurde. Die Langen Mauern niederreißen? Was soll das heißen: die Langen Mauern niederreißen? Als wir endlich verstanden, was da von uns verlangt wurde, entbrannte ein Sturm der Entrüstung. Niemanden hielt es mehr auf seinem Platz. Selbst die Greise erhoben sich und ballten die Fäuste. «Nie, niemals!», hörte man rufen und «Athen ist frei, wir sind keine Sklaven!» skandieren. Wer irgendetwas fand, das er werfen konnte, warf es in Richtung Tribüne. Theramenes musste sich vor einem Hagelsturm aus Äpfeln, Steinen, Scherben und Schnallen in Sicherheit bringen, weil er es gewagt hatte, eine solche Forderung auch nur zu verlesen. Dabei verließ ihn für einen Augenblick sogar sein breites Grinsen. Ich erkannte das Gesicht eines alten Kindes, das nicht begreift, was in der Welt geschieht. Sofort sprangen die Toxotai auf und stellen sich zwischen den Strategen und die wütende Menge. Dann zogen sie die Weidenruten. Erst das brachte die Männer wieder zu sich.
Theodoros, der Vorsitzende der Prytanen, übernahm die Leitung der Versammlung, während Theramenes Schutz bei seinen Freunden suchte. War es ein Zufall, dass ausgerechnet Kritias sich erhob und ihn vor unseren Augen beglückwünschte? Er, dessen Züge sonst so kalt und dessen Gesten so abweisend waren, erhob sich, lachte Theramenes an und umarmte ihn. Ich konnte es kaum glauben und musste mich zwingen, wieder nach vorne zu sehen, wo nun Theodoros stand und zu sprechen versuchte.
Er war ein alter, ein gebückter Mann. Seine Stimme klang dünn, und seine Augen schimmerten wässerig. Wie er so vor der Menge stand, war es, als verfluchte er den Vorsitz, der ihm durch das Los ausgerechnet für diesen Tag zugefallen

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