Mord im Nord
Politik ging, sondern auch um Zusammenleben oder Kultur. Wir stellten auch fest, dass es bis weit in die siebziger Jahre hinein so etwas wie einen Zeitgeist gab, der unsere Generation verbunden und geprägt hat – oder jedenfalls einen Teil davon, dem wir uns aber alle zugehörig fühlten.
Alle wussten wir von Erfahrungen aus unserer Zeit als Jugendliche und junge Erwachsene zu berichten. Alle hatten wir uns damals politisch engagiert, wobei das Spektrum der bevorzugten Gruppen und Grüppchen breit war und von obskuren marxistischen Splittergruppen bis zum bürgerlichen Flügel der Sozialdemokraten oder von feministischen bis zu frühen Ökogruppen reichte. Dazu hatten wir alle mit freier Liebe und offener Beziehung, mit bewusstseinsverändernden Drogen und neuen Kunstformen experimentiert. Immer im ungebrochenen Bewusstsein, wir täten damit Entscheidendes, um die Welt zu verbessern.
Die Welt verbessern zu wollen war damals selbstverständlich. Und das wirkte leichter als jemals davor und danach. Die ökonomischen Zukunftsaussichten erschienen rosig, darum brauchte man sich nicht zu kümmern. Es gab eine Menge Verkrustungen, gegen die man sich mit Fug und Recht auflehnen konnte, und die Feindbilder waren auch klar. Dazu kam der jugendliche Übermut zu glauben, man wüsste genau, wie eine bessere Welt auszusehen hätte.
Diese geistige Überheblichkeit, mussten wir uns zerknirscht eingestehen, war wohl das, was am ehesten als Jugendsünde bezeichnet werden konnte. Im Rückblick erschien uns allen die Vorstellung, es gäbe Patentrezepte für eine bessere Welt, die für alle und jeden gültig seien, geradezu absurd. Dank einer gewissen Altersmilde waren wir bereit, uns dafür zu verzeihen. Schliesslich waren wir alle nicht in dieser seltsamen Denkweise stecken geblieben, sondern hatten im Laufe eines langen Reifungsprozesses gelernt, die Vorzüge eines individuellen, differenzierten Denkens zu schätzen, und konnten so die damalige Entwicklungsstufe als unvermeidliche geistige Verwirrung abbuchen.
Davon abgesehen, stellten wir fest, wollten wir alle diese Lebensphase keineswegs missen. Es war damals einfach ein gutes Gefühl, sich für die Verbesserung der Welt einzusetzen. Es hatte die Quellen von Identität, Orientierung und Sinn reichlich sprudeln lassen. Einen Moment lang bestand sogar die Gefahr, dass wir in ein kollektives Gefühl des nostalgischen Bedauerns darüber abrutschten, dass jene schönen Zeiten unwiederbringlich vorbei waren, weil uns das Leben gelehrt hatte, dass die Welt zwar nach wie vor verbesserungswürdig war, sich aber um unsere Meinung dazu einen feuchten Dreck kümmerte.
Diese Abwendung von der Verbesserung der Welt als Ganzem, fanden wir zum Glück heraus, hatte auch ihr Gutes gehabt. Wir hatten gelernt, in unserem beschränkten kleinen Wirkungsfeld da und dort einen kleinen Beitrag zu einer besseren Welt zu leisten. Vor allem aber hatten wir uns uns selbst zugewandt im mehr oder weniger geglückten Bemühen, aus uns bessere Menschen zu machen. Und aus dieser neuen Bescheidenheit heraus waren Identität, Orientierung und Sinn gewachsen.
Als wir, mittlerweile geistig beflügelt von einer ersten Runde Appenzeller Alpenbitter, noch tiefer bohrten, entdeckten wir, dass trotzdem in uns allen noch ein Flämmchen aus jener fernen Zeit glomm, das geduldig darauf wartete, eines Tages wieder zu einer grösseren Flamme zu werden. Wir fanden alle im Fundus unserer Teilpersönlichkeiten jene jugendlichen Weltverbesserer, die davon träumten, endlich wieder im Orchester unserer Gesamtpersönlichkeit mitspielen zu dürfen.
Und schon hatten wir ein Ziel für unseren Geheimbund gefunden: die Welt zu verbessern. Oder, besser gesagt, einen kleinen Beitrag dazu zu leisten. Nicht mehr im jugendlichen Überschwang und Übermut von damals, aber anknüpfend an jene Begeisterung. Was würde herauskommen, wenn man jungen Antrieb und reife Erfahrung kombiniert? Das schien ein vielversprechendes Experiment zu werden.
Adelina schaute mich mit Augen an, aus denen Güte quoll, und meinte nachsichtig, sie würde mir ja einen kleinen nostalgischen Trip zurück in eine längst vergangene Zeit gern gönnen, doch mit einem Club, der ganz generell die Welt verbessern wolle, könne sie im Moment wenig anfangen. Ob ich nicht noch mehr abkürzen könne?
Tatsächlich hätte ich noch tagelang über die Inhalte der Gespräche in unserem «Geheimbund» berichten können, über den archimedischen Hebel, mit dem man die Welt
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