Mord im Nord
blickte staunend über meine Schultern auf den Bildschirm.
Ich blätterte, noch unentschlossen, welche Briefe ich zuerst öffnen lassen sollte, durch den Stapel von Umschlägen. Viel Interessantes schien nicht dabei zu sein. Bis auf einen, mit einer mir unbekannten Handschrift adressiert. Vorne war kein Absender, doch man konnte die Umschläge virtuell drehen und so auch eine auf der Rückseite angebrachte Absenderadresse sehen. Tatsächlich stand dort eine, ziemlich klein und zunächst kaum lesbar. Adelina konnte sie schliesslich entziffern. Der Absender war Hans Bärlocher.
Beichte
Es dauerte nur eine knappe Viertelstunde, bis der Brief von Hans als Bilddatei übermittelt wurde, wobei «Brief» vielleicht nicht ganz das richtige Wort für einen handschriftlichen Erguss von rund zwanzig Seiten war. In der Zwischenzeit hatten wir auf das Aufgabedatum geachtet: Der Brief war am Tage vor seinem Tod auf dem Postamt Trogen abgestempelt worden. Also vor zwei Wochen, genau dann, als ich auf das digitale System umgestellt hatte. Es war somit einer Verkettung unglücklicher Umstände zuzuschreiben, dass der Brief so lange unterwegs gewesen war. Jetzt war er da, und wir machten uns nicht mal den Umstand, ihn auszudrucken, so neugierig waren wir. Die Handschrift von Hans war nicht immer einfach zu entziffern, doch gemeinsam schafften wir es schliesslich doch:
«Lieber Franz
Ich schreibe Dir diesen ‹Brief›, von dem ich fürchte, dass er eher eine längere Erzählung wird als ein normaler Brief, bewusst von Hand und werde ihn nachher der guten alten Schneckenpost anvertrauen, weil mir das im Moment der sicherste Weg scheint, Vertraulichkeit zu gewährleisten. Wobei Vertraulichkeit kein Wort ist, das ich derzeit guten Gewissens in den Mund beziehungsweise in die Feder nehmen darf. Denn, um es gleich vorwegzunehmen: Ich habe das Geheimnis von Appenzeller Secret verraten. Und damit vermutlich auch Dich in Gefahr gebracht.
Dafür kann ich von Dir kein Verzeihen erwarten, das ist mir klar. Ich kann höchstens auf ein wenig Verständnis hoffen. Und dazu ist es sicher am besten, wenn ich die ganze Geschichte meines Verrats erzähle.
Es begann am Tag nach unserer ‹Szene am Bach›, also nach unserem Test von Appenzeller Secret. Ich reiste an diesem Tag nach Basel, weil ich dort am nächsten Morgen einen frühen Termin hatte und deshalb schon am Vortag hinfuhr. Ein Hotelzimmer hatte ich reserviert, plante meine Reise aber so, dass ich früh genug ankam, um noch die Ausstellung im Antikenmuseum anschauen zu können. Du weisst schon, ‹Sex, Drugs und Leierspiel. Rausch und Ekstase in der Antike›, jene Ausstellung, die auch unser gemeinsames Buchprojekt über Appenzeller Räusche inspiriert hat.
Dort war ich gerade in den Anblick einer Vase vertieft, die ein Paar beim deftigen Liebesspiel zeigte, flankiert von zwei Trinkpokalen, von denen der eine mit Weintrauben, der andere mit Getreideähren geschmückt war, als plötzlich eine etwas verraucht klingende Frauenstimme sagte, bei den Ähren handle es sich vermutlich um Roggen, und das wiederum sei ein Hinweis auf Mutterkornpilze.
Erstaunt drehte ich den Kopf. Neben mir stand eine attraktive Frau, ein bisschen grösser als ich, mit wallendem blonden Haar, elegant im Business-Look gekleidet, so um die vierzig. Erstaunt war ich aus zwei Gründen. Zum einen kommt es selten vor, dass mich eine Frau anspricht, und von einer so attraktiven war das noch nie der Fall gewesen. Sie hatte offensichtlich mich gemeint, denn weit und breit war sonst niemand zu sehen. Zum anderen hatte ich vom Typ Geschäftsfrau, den sie eindeutig verkörperte, kein Wissen über die psychoaktiven Wirkungen von Mutterkornpilzen erwartet.
Davon hatte sie eindeutig mehr als eine Ahnung, wie sich in dem Gespräch schnell herausstellte, das sich jetzt entwickelte. Sie wusste, dass mit Mutterkornpilzen verunreinigter Roggen lange Zeit immer wieder für verheerende Massenvergiftungen gesorgt hatte, dass der Pilz aber auch die Wehen fördert, weshalb er in der Geburtshilfe eingesetzt wurde. An einem Mittel dafür arbeitete auch der Basler Chemiker Albert Hofmann bei der Firma Sandoz und synthetisierte 1938 aus Mutterkornabkömmlingen das erste Mal LSD . 1943, als rund um die versehrte Schweiz herum der Krieg tobte, kam er auf diesen Stoff zurück und entdeckte dessen halluzinogene Wirkung in unvorstellbar kleinen Dosierungen.
Zusammen mit dem Pilzforscher Wasson veröffentlichte Albert Hofmann später ein Buch,
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