Mord im Nord
der Dorfchronik aufzunehmen. Jemand also vom zweiten «Geheimbund».
Ich konnte ihrer Logik nichts entgegenhalten, und ich hätte auch nicht für jede und jeden die Hand ins Feuer gelegt, dazu kannte ich sie denn doch zu wenig gut. Es blieb nur ein kleiner, aber entscheidender Haken: Niemand von unserem «Geheimbund» wusste etwas vom Projekt «Soma», unser Gegner aber schon. Niemand ausser mir natürlich.
Einen klitzekleinen Moment lang sah mich Adelina zweifelnd an, auch sie war offenbar zur selben logisch zwingenden Schlussfolgerung gekommen. Ihre Züge entspannten sich wieder, und sie meinte, mir würde sie einen solchen Verrat erstens nicht zutrauen und zweitens, falls doch, spräche doch sehr dagegen, dass ich ihr, Adelina, die ganze Geschichte erzählt hätte, wovor sich ein echter Verräter wohl gehütet hätte. Allerdings sei damit auch klar, dass ich mit meinem Wissen nicht zur Polizei gehen könne, denn die würden dieselben Folgerungen ziehen und mich womöglich gleich verhaften, was gar nicht in ihrem Sinne wäre. Sie hätte sich in der kurzen Zeit wieder sehr an mich gewöhnt.
Das nahm ich gerne zur Kenntnis, und sie hatte recht. Die Polizei wäre in diesem Falle keine Hilfe. Von woanders war solche auch nicht zu erwarten. Es blieb uns nichts anderes übrig, als den Fall selbst zu lösen. Oder auch nicht. Was die wesentlich wahrscheinlichere Variante war. Offen blieb, was ich mit der unverhohlenen Drohung anfangen sollte. Irgendwie war ich zu ausgelaugt, um darüber nachzudenken. Adelina spürte das und zitierte – Fan von «Vom Winde verweht» wie fast jede Frau – Scarlett O’Hara mit den unsterblichen Worten, morgen sei auch noch ein Tag. Oder so ähnlich.
An diesem Abend schlüpfte Adelina ganz selbstverständlich unter meine Decke, und diesmal blieb es nicht beim Kuscheln. Wir fuhren dort fort, wo wir vor einem halben Jahr auf der Hügelkuppe aufgehört hatten, und es war noch viel schöner als ich es in Erinnerung hatte.
Entsprechend schliefen wir am anderen Morgen bis in die Puppen. Draussen war es nicht nur kalt und nass, sondern auch noch stürmisch. Ich war froh, dass ich nicht mehr den Hügel runter bis zum Gemeinschaftsbriefkasten stapfen musste, um meine Post zu holen. Zum Glück war ich vor etwa vierzehn Tagen über ein neues Angebot der Post gestolpert, das so beschrieben wurde:
«Sobald Ihr elektronischer Briefkasten eingerichtet ist, scannen wir Ihre physischen Briefe ungeöffnet ein und schicken Ihnen ein E-Mail mit dem Bild des Briefumschlags. Sie entscheiden, ob wir den Brief öffnen und scannen, physisch zustellen, recyceln, schreddern oder archivieren sollen.»
Dieses Angebot namens Swiss Post Box sammelte also meine physischen Briefe auf Papier, schickte mir ein Bildchen davon, und ich konnte sagen, welche Briefe ich gern eingescannt und per Mail an mich geschickt hätte. Werbesendungen könnte ich so gleich ausscheiden, mit der Entsorgung hätte ich nichts mehr zu tun, und alles, was mir wichtig war, erschien sogleich und bequem auf meinem Bildschirm. Gut, parfümierte Briefe würden so nicht mehr duften, aber wer schickte mir schon parfümierte Briefe? So habe ich mich denn sofort angemeldet.
Bereits am übernächsten Tag kamen keine Briefe mehr in meinen physischen Briefkasten. Allerdings auch keine in meinen digitalen. Das machte mich etwas stutzig, und nach ein paar Tagen rief ich deswegen die Hotline an, wo mir eine durchaus freundliche Stimme erklärte, es handle sich eben wirklich um eine ganz neue Dienstleistung, da seien Kinderkrankheiten ziemlich wahrscheinlich, und ein paar solcher Probleme seien nun leider aufgetreten, was ihnen ganz furchtbar leidtäte, aber nicht zu ändern wäre. Zur Beruhigung könne sie mir aber mitteilen, dass kein physischer Brief verloren wäre, es würde nur leider noch etwas dauern, bis sie digital übermittelt werden könnten, ein paar Tage höchstens noch. Da ich nichts Dringendes erwartete, lehnte ich das Angebot ab, mir die Briefe physisch nachzusenden, und erklärte mich stattdessen murrend bereit, die paar Tage abzuwarten.
Ausgerechnet heute war es jetzt offenbar so weit. Ich hatte tatsächlich die Scans von etlichen Briefumschlägen, die an mich adressiert waren, auf meinem Bildschirm. Zudem das Angebot, zur Wiedergutmachung würden die von mir ausgewählten Briefe innerhalb einer Stunde geöffnet, eingescannt und übermittelt. Ich war begeistert ob des neuen Spielzeugs, und auch Adelina, die davon noch nie gehört hatte,
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