Mord im Orientexpress
nicht. Schließlich hat die Ärmste sich in ihrer Verzweiflung aus dem Fenster gestürzt. Hinterher erwies es sich dann, dass sie jeglicher Komplizenschaft vollkommen unschuldig war.»
«Man möchte gar nicht daran denken», sagte Monsieur Bouc.
«Ein halbes Jahr später wurde dieser Cassetti als Kopf der Entführerbande verhaftet. Die Gangster waren schon öfter nach derselben Methode vorgegangen: Immer wenn sie glaubten, dass die Polizei ihnen auf der Spur sei, töteten sie ihr Opfer und versteckten die Leiche, erpressten aber weiter so viel Geld wie möglich, bis das Verbrechen entdeckt wurde.
Nun muss ich noch auf eines ganz klar hinweisen, meine Freunde. Cassetti war erwiesenermaßen der Täter! Aber mit Hilfe des immensen Reichtums, den er angehäuft hatte, und der heimlichen Macht, die er über gewisse Personen besaß, gelang es ihm, wegen irgendeines Formfehlers einen Freispruch zu erwirken. Dessen ungeachtet wäre er von der Bevölkerung gelyncht worden, wenn er nicht schlau genug gewesen wäre, sich aus dem Staub zu machen. Mir ist jetzt völlig klar, wie es weitergegangen ist. Er hat seinen Namen geändert und Amerika verlassen. Seitdem reiste er als reicher Müßiggänger durch die Lande, der von den Erträgen seines Vermögens lebte.»
«Ah, quel animal ! » In Monsieur Boucs Ton lag abgrundtiefe Verachtung. «Ich vermag seinen Tod nicht im Mindesten zu bedauern, wahrhaftig nicht.»
«Da bin ich ganz Ihrer Meinung.»
«Tout de même, es musste nicht ausgerechnet im Orientexpress sein. Man hätte ihn anderswo umbringen können.»
Poirot lächelte. Monsieur Boucs Voreingenommenheit in dieser Frage war ihm durchaus verständlich.
«Die Frage, die wir uns jetzt stellen müssen, ist diese», sagte er. «War der Mord das Werk einer rivalisierenden Bande, die früher einmal von Cassetti aufs Kreuz gelegt wurde, oder war er ein privater Racheakt?»
Er berichtete, wie er auf dem verkohlten Stück Papier die paar Wörter entdeckt hatte.
«Wenn meine Mutmaßung stimmt, wurde der Brief vom Mörder verbrannt. Warum? Weil das Wort ‹Armstrong› darin vorkam, das den Schlüssel zu dem Rätsel bildet.»
«Lebt denn noch jemand von der Familie Armstrong?»
«Leider weiß ich das nicht. Aber wenn ich mich recht erinnere, habe ich einmal von einer jüngeren Schwester der Mrs. Armstrong gelesen.»
Poirot berichtete weiter, zu welchen Erkenntnissen er und Dr. Constantine gemeinsam gekommen waren. Als er auf die stehen gebliebene Uhr zu sprechen kam, begann Monsieur Bouc zu strahlen.
«Mir scheint, das gibt uns die genaue Tatzeit an.»
«Ja», meinte Poirot. «Es kommt uns sehr zupass.»
Aber es lag etwas Unbestimmbares in seinem Ton, weshalb die beiden anderen ihn neugierig ansahen.
«Sie sagen doch, Sie selbst hätten Mr. Ratchett noch um zwanzig vor eins mit dem Schaffner reden hören?»
Poirot berichtete über diesen Vorgang.
«Nun», sagte Monsieur Bouc, «das beweist doch, dass Cassetti – oder Ratchett, wie ich ihn weiterhin nennen werde – auf jeden Fall um zwanzig vor eins noch am Leben war.»
«Um dreiundzwanzig vor eins, um es genau zu sagen.»
«Also war Mr. Ratchett, um es präzise auszudrücken, um null Uhr siebenunddreißig noch am Leben. Damit wissen wir doch wenigstens etwas.»
Poirot antwortete nicht. Er blickte nur nachdenklich vor sich hin.
Es klopfte, und ein Speisewagenkellner trat ein.
«Der Speisewagen ist jetzt frei, Monsieur», meldete er.
«Dann wollen wir uns dorthin begeben», sagte Monsieur Bouc, schon im Aufstehen.
«Darf ich mitkommen?», fragte Dr. Constantine.
«Aber gewiss, mein lieber Doktor. Sofern Monsieur Poirot keine Einwände erhebt?»
«Mitnichten, mitnichten», beteuerte Poirot.
Und nach einigen höflichen «Après vous, Monsieur» – « Mais non, après vous» – verließen sie das Abteil.
Teil 2
Die Zeugen
Erstes Kapitel
Das Zeugnis des Schlafwagenschaffners
I m Speisewagen war alles bereit.
Poirot und Monsieur Bouc setzten sich nebeneinander an einen Tisch. Der Arzt nahm auf der anderen Seite des Mittelgangs Platz.
Vor Poirot lag eine Grundrissskizze des Wagens Istanbul-Calais, in die mit roter Tinte die Namen der Reisenden eingetragen waren.
Ein Stapel Pässe und Fahrkarten lag auf der einen Seite. Schreibpapier, Tinte, Federhalter und Bleistifte waren vorhanden.
«Ausgezeichnet», sagte Poirot. «Wir können ohne weitere Umschweife mit dem Verhör beginnen. Zuerst, meine ich, sollten wir uns die
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