Mord im Orientexpress
ob ich den in sein Abteil gelegt hätte. Ich habe ihm natürlich geantwortet, dass ich nichts dergleichen getan hatte, aber er hat mich beschimpft und hatte an allem, was ich tat, etwas auszusetzen.»
«War das ungewöhnlich?»
«O nein, Sir, er konnte sehr leicht außer sich geraten – wie gesagt, es hing nur davon ab, was ihn gerade aus der Fassung brachte.»
«Hat Ihr Herr je etwas zum Einschlafen genommen?»
Dr. Constantine beugte sich gespannt vor.
«Auf Eisenbahnfahrten immer, Sir. Er sagte, er könne sonst nicht schlafen.»
«Ist Ihnen bekannt, welches Mittel er gewöhnlich nahm?»
«Ich habe wirklich keine Ahnung, Sir. Es stand nichts auf der Flasche. Nur ‹Der Schlaftrunk vor dem Zubettgehen›.»
«Hat er gestern Nacht auch davon genommen?»
«Ja, Sir. Ich habe ihn in ein Glas gegossen und es ihm auf das Toilettentischchen gestellt.»
«Haben Sie gesehen, wie er ihn getrunken hat?»
«Das nicht, Sir.»
«Wie ging es dann weiter?»
«Ich habe ihn gefragt, ob er noch einen Wunsch hat und wann er am Morgen geweckt werden möchte. Er hat gesagt, er werde nach mir klingeln und wolle bis dahin nicht gestört werden.»
«War das üblich?»
«Durchaus üblich, Sir. Er pflegte nach dem Schaffner zu klingeln und mich von ihm holen zu lassen, wenn er zum Aufstehen bereit war.»
«Stand er gewöhnlich früh oder spät auf?»
«Das hing von seiner Laune ab, Sir. Manchmal stand er schon zum Frühstück auf, manchmal blieb er bis gegen Mittag liegen.»
«Demnach haben Sie sich keine Gedanken gemacht, als es heute Vormittag immer später wurde und niemand nach Ihnen rief?»
«Nein, Sir.»
«Wussten Sie, dass Ihr Herr Feinde hatte?»
«Ja, Sir.»
Er sagte das vollkommen emotionslos.
«Woher wussten Sie es?»
«Ich habe ihn mit Mr. MacQueen über irgendwelche Briefe reden hören, Sir.»
«Waren Sie Ihrem Arbeitgeber – zugetan, Masterman?»
Mastermans Gesicht wurde, soweit das möglich war, noch ausdrucksloser als sonst.
«So würde ich es kaum nennen wollen, Sir. Er war ein großzügiger Arbeitgeber.»
«Aber Sie mochten ihn nicht?»
«Können wir es so ausdrücken, dass ich die Amerikaner nicht besonders mag, Sir?»
«Waren Sie je in Amerika?»
«Nein, Sir.»
«Können Sie sich erinnern, in der Zeitung über den Entführungsfall Armstrong gelesen zu haben?»
In die Wangen des Mannes kam jetzt ein wenig Farbe.
«Ja, Sir, in der Tat. Ein kleines Mädchen, nicht wahr? Eine ganz furchtbare Geschichte.»
«Wussten Sie, dass Ihr Arbeitgeber, Mr. Ratchett, der Drahtzieher in dieser Sache war?»
«Wahrhaftig nicht, Sir.» Zum ersten Mal drückte die Stimme des Dieners eine echte Empfindung aus. «Das kann ich kaum glauben, Sir.»
«Es ist trotzdem wahr. Nun zu Ihren diversen Tätigkeiten im Lauf der Nacht. Reine Routinesache, Sie verstehen? Was haben Sie gemacht, nachdem Sie Ihren Herrn verlassen hatten?»
«Ich habe Mr. MacQueen gesagt, dass der Herr nach ihm verlangt, Sir. Dann bin ich in mein eigenes Abteil gegangen und habe gelesen.»
«Ihr Abteil ist –?»
«Das letzte in der zweiten Klasse, Sir. Gleich hinter dem Speisewagen.»
Poirot warf einen Blick auf seine Skizze.
«Aha. Und Sie haben welches Bett?»
«Das untere, Sir.»
«Das ist Nummer vier?»
«Ja, Sir.»
«Ist in diesem Abteil noch jemand?»
«Ja, Sir, ein großer, dicker Italiener.»
«Spricht er Englisch?»
«So etwas Ähnliches wie Englisch, Sir», sagte der Diener in missbilligendem Ton. «Er war in Amerika – in Chicago –, soviel ich weiß.»
«Unterhalten Sie sich viel miteinander?»
«Nein, Sir. Ich ziehe es vor, zu lesen.»
Poirot lächelte. Er sah es im Geiste vor sich – den dicken, redseligen Italiener und den hochnäsigen Diener, der ihn abblitzen ließ.
«Darf ich fragen, was Sie gerade lesen?», erkundigte er sich.
«Zurzeit lese ich ‹Gefangener der Liebe›, Sir, von Mrs. Arabella Richardson.»
«Ein guter Roman?»
«Ich finde ihn überaus erfreulich, Sir.»
«Gut, fahren wir fort. Sie sind in Ihr Abteil gegangen und haben ‹Gefangener der Liebe› gelesen – bis wann?»
«Gegen halb elf wollte dieser Italiener zu Bett gehen, Sir. Also kam der Schaffner, um die Betten herzurichten.»
«Und dann sind Sie zu Bett gegangen und haben geschlafen?»
«Ich bin zu Bett gegangen, Sir, habe aber nicht geschlafen.»
«Warum nicht?»
«Ich hatte Zahnschmerzen, Sir.»
«Oh, là, là! Das kann schlimm sein.»
«Sehr schlimm, Sir.»
«Haben Sie etwas dagegen getan?»
«Ich habe ein wenig
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