Mord im Orientexpress
den Schaffner gedrückt. Ich habe geklingelt und geklingelt, aber es passierte nichts, und ich kann Ihnen sagen, ich dachte schon, mir bleibt gleich das Herz stehen. ‹Barmherzigkeit›, dachte ich, (vielleicht haben die ja schon alle Leute im Zug umgebracht.) Der Zug stand ja auch, und es war so eine schreckliche Stille in der Luft. Aber ich habe immer wieder auf diese Klingel gedrückt, und oh, welche Erlösung, als ich endlich schnelle Schritte auf dem Gang hörte und jemand an meine Tür klopfte! ‹Herein!›, habe ich gerufen und zugleich das Licht angeknipst. Und ob Sie es glauben oder nicht, es war keine Menschenseele da.»
Für Mrs. Hubbard schien dies der dramatische Höhepunkt ihrer Geschichte zu sein, nicht das Gegenteil.
«Und wie ging es dann weiter, Madame?»
«Also, ich habe dem Schaffner gesagt, was los war, und er wollte mir überhaupt nicht glauben. Bildete sich anscheinend ein, ich hätte das Ganze nur geträumt. Aber ich habe darauf bestanden, dass er unter den Sitz guckt, obwohl er sagte, da ist gar nicht so viel Platz, dass ein Mann sich hineinquetschen könnte. Also, es lag völlig klar auf der Hand, dass der Mann abgehauen war, aber es war einer da gewesen, und es machte mich einfach wütend, wie der Schaffner mich dauernd nur beschwichtigen wollte! Ich phantasiere mir doch nichts zusammen, Mr. – ich glaube, ich kenne Ihren Namen noch gar nicht.»
«Poirot, Madame, und das ist Monsieur Bouc, ein Direktor der Gesellschaft. Und Dr. Constantine.»
Mrs. Hubbard murmelte abwesend und an alle drei zugleich gerichtet: «Sehr erfreut», und stürzte sich wieder in ihre Erzählung.
«Wissen Sie, ich will ja nicht sagen, dass ich mich besonders schlau angestellt hätte. Für mich stand einfach fest, dass es der Mann von nebenan war – der arme Kerl, den sie ermordet haben. Ich habe dem Schaffner gesagt, er soll sich die Verbindungstür zwischen den beiden Abteilen ansehen, und siehe da, sie war nicht verriegelt. Also, kaum hatte ich das gesehen, habe ich ihm natürlich gesagt, er soll sie auf der Stelle verriegeln, und nachdem er draußen war, bin ich aufgestanden und habe zur Sicherheit noch einen Koffer davor gestellt.»
«Um welche Zeit war das, Mrs. Hubbard?»
«Also, das kann ich Ihnen nun wirklich nicht sagen. Ich habe doch nicht auf die Uhr gesehen. Dafür war ich viel zu aufgeregt.»
«Und wie lautet jetzt Ihre Theorie?»
«Also, ich würde sagen, das liegt doch auf der Hand. Der Mann in meinem Abteil war der Mörder! Wer denn sonst?»
«Und Sie glauben, er ist wieder ins Nachbarabteil gegangen?»
«Woher soll ich wissen, wohin er gegangen ist? Ich hatte doch die Augen ganz fest zu.»
«Er muss sich zur Tür hinaus auf den Gang geschlichen haben.»
«Ich habe keine Ahnung. Wie gesagt, ich hatte doch die Augen zu.» Mrs. Hubbard entrang sich ein zittriger Seufzer. «Barmherzigkeit, hatte ich eine Angst! Wenn meine Tochter wüsste –»
«Sie glauben nicht, Madame, dass die Geräusche, die Sie gehört haben, nebenan gewesen sein könnten – im Abteil des Ermordeten?»
«Nein, Mr. – wie war noch der Name – Poirot? Nein, der Mann war bei mir, mit mir im selben Abteil. Und vor allem kann ich das sogar beweisen.»
Triumphierend nahm sie eine große Handtasche auf den Schoß und begann in ihren Tiefen zu wühlen. Nacheinander holte sie zwei große saubere Taschentücher heraus, eine Hornbrille, ein Fläschchen Aspirin, ein Päckchen Glaubersalz, ein Zelluloidröhrchen mit grünen Pfefferminzbonbons, einen Schlüsselbund, eine Schere, ein Scheckheft von American Express, ein Foto von einem ausnehmend hässlichen Kind, ein paar Briefe, fünf Ketten mit falschen orientalischen Perlen und einen kleinen metallenen Gegenstand – einen Knopf.
«Sehen Sie diesen Knopf? Also, mir gehört der nicht. Er ist von keiner meiner Sachen. Ich habe ihn heute Morgen gefunden, als ich aufstand.»
Als sie den Knopf auf den Tisch legte, beugte Monsieur Bouc sich mit einem Ausruf des Erstaunens darüber.
«Aber dieser Knopf ist ja von der Uniform eines Schlafwagenschaffners!»
«Dafür kann es eine natürliche Erklärung geben», meinte Poirot.
Er wandte sich freundlich an die Dame.
«Dieser Knopf, Madame, könnte sich von der Uniform des Schaffners gelöst haben, entweder als er Ihr Abteil durchsuchte oder als er gestern Abend Ihr Bett herrichtete.»
«Ich weiß wirklich nicht, was mit Ihnen allen los ist. Anscheinend können Sie nichts als Einwände erheben. Jetzt hören Sie mir mal gut
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