Mord im Pfarrhaus
verkündete ich meinen Text.
Ich bin gekommen, zu rufen die Sünder zur Buße, und nicht die Gerechten.
Ich wiederholte ihn zweimal, und ich hörte meine eigene Stimme, eine voll tönende, klingende Stimme, die der Stimme des alltäglichen Leonard Clement gar nicht glich.
Ich sah, wie Griselda in ihrer Kirchenbank vorne überrascht aufschaute und Dennis ihrem Beispiel folgte.
Ich hielt kurz den Atem an, und dann legte ich los.
Die Gemeinde in dieser Kirche war in einem Zustand aufgestauter Emotion, der nur darauf wartete, genutzt zu werden. Und ich nutzte ihn aus. Ich ermahnte die Sünder zur Buße. Ich trieb mich in eine Art emotionaler Ekstase. Wieder und wieder hob ich drohend die Hand und wiederholte die Wendung «Ich spreche zu dir…»
Und jedes Mal stieg aus einem anderen Teil der Kirche ein erschrockener Seufzer auf.
Massenemotion ist eine seltsame und schreckliche Sache.
Ich endete mit diesen schönen und aufrüttelnden Worten – vielleicht den schärfsten Worten in der ganzen Bibel:
«In dieser Nacht wird deine Seele von dir gefordert werden…»
Es war ein merkwürdiger, kurzer Wahn. Als ich ins Pfarrhaus zurückkam, war ich mein übliches farbloses, unentschlossenes Selbst. Griselda sah ziemlich blass aus. Sie schob ihren Arm unter meinen.
«Len», sagte sie, «du warst heute Abend ziemlich schrecklich. Es – es hat mir nicht gefallen. Nie zuvor habe ich dich so predigen hören.»
«Vermutlich wirst du es auch nie wieder hören.» Erschöpft sank ich aufs Sofa. Ich war müde.
«Was hat dich dazu gebracht?»
«Eine plötzliche Tollheit ist über mich gekommen.»
«Oh! Es – es war nicht etwas Besonderes?»
«Was meinst du damit – etwas Besonderes?»
«Ich habe mich das nur gefragt – das war alles. Du bist immer wieder überraschend, Len. Ich habe nie das Gefühl, dich wirklich zu kennen.»
Wir setzten uns zu einem kalten Abendessen. Mary hatte Ausgang.
«In der Diele liegt ein Brief für dich», sagte Griselda. «Holst du ihn bitte, Dennis?»
Dennis, der sehr still gewesen war, gehorchte.
Ich nahm ihn und stöhnte auf. Über die linke Ecke war geschrieben: «Durch Boten – eilt.»
«Der», sagte ich, «muss von Miss Marple sein. Es ist niemand sonst übrig.»
Meine Vermutung war ganz richtig.
Lieber Mr Clement
Ich würde so gern ein bisschen mit Ihnen über ein oder zwei Dinge reden, die mir eingefallen sind. Ich finde, wir sollten alle versuchen, zur Aufklärung dieses traurigen Rätsels beizutragen. Ich komme um halb zehn, wenn ich darf, und klopfe an Ihre Arbeitszimmertür. Vielleicht ist die liebe Griselda so freundlich, hereinzuschauen und meinen Neffen aufzuheitern. Mr Dennis natürlich auch, wenn er Lust dazu hat. Wenn ich nichts von Ihnen höre, erwarte ich Sie und komme zur angegebenen Zeit.
Mit besten Grüßen
Jane Marple
Ich reichte Griselda den Brief.
«Oh ja, wir gehen!», sagte sie munter. «Ein Glas selbst gemachter Likör oder zwei sind genau das, was man an einem Sonntagabend braucht. Ich glaube, es ist Marys Pudding, der einen so schrecklich deprimiert. Er schmeckt wie etwas aus der Leichenhalle.»
Dennis schien von der Aussicht weniger entzückt.
«Das ist alles schön und gut für dich», murrte er. «Du kannst all dieses hochgestochene Zeug über Kunst und Bücher reden. Ich komme mir wie ein Idiot vor, wenn ich euch zuhöre.»
«Das tut dir gut», sagte Griselda gelassen. «Es weist dich in deine Schranken. Außerdem halte ich Mr Raymond West nicht für so schrecklich klug, wie er tut.»
Ich sagte: «Das trifft auf die meisten von uns zu.»
Ich fragte mich, worüber genau Miss Marple reden wollte. Von allen Damen meiner Gemeinde hielt ich sie für die scharfsinnigste. Sie sieht und hört nicht nur praktisch alles, was vor sich geht, sie zieht auch erstaunlich richtige und treffende Schlüsse aus den Tatsachen, die sie bemerkt.
Wenn ich irgendwann eine Laufbahn als Betrüger einschlagen würde, hätte ich vor Miss Marple die größte Angst.
Was Griselda eine Party zum Amüsement des Neffen nannte, begann kurz nach neun, und während ich auf Miss Marple wartete, amüsierte ich mich damit, eine Art Zeitplan der Tatsachen aufzustellen, die mit dem Mord zu tun hatten. Ich brachte sie so weit wie möglich in die chronologische Reihenfolge. Ich bin kein pünktlicher Mensch, aber ein ordentlicher, und ich mag es, wenn die Dinge methodisch aufgelistet sind.
Pünktlich um halb zehn wurde leise an die Glastür geklopft, und ich stand auf und
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