Mord im Pfarrhaus
weiter bis zur Glastür des Arbeitszimmers und schaute hinein und sah Colonel Protheroe nicht.»
«Weil er am Schreibtisch saß und schrieb.»
«Und das ist es, was nicht stimmt. Denn das war um zwanzig nach sechs. Wir waren uns aber einig, dass er sich erst nach halb sieben hinsetzen und schreiben würde, er könne nicht länger warten – warum soll er also schon davor am Schreibtisch gesessen haben?»
«Daran habe ich nie gedacht», sagte ich langsam.
«Lieber Mr Clement, lassen Sie uns alles noch einmal durchgehen. Mrs Protheroe schaut ins Arbeitszimmer und glaubt, es ist leer – das muss sie geglaubt haben, sonst wäre sie nie zum Atelier gegangen, um Mr Redding zu treffen. Es wäre zu gefährlich gewesen. Im Zimmer muss es ganz still gewesen sein, wenn sie glaubte, es sei niemand da. Und das lässt uns drei Möglichkeiten, nicht wahr?»
«Sie meinen…»
«Nun, die erste wäre, dass Colonel Protheroe schon tot war – aber das halte ich nicht für die wahrscheinlichste. Dann wäre er erstens nur etwa fünf Minuten dort gewesen, und sie oder ich hätten den Schuss gehört, und zweitens bliebe die Frage, warum er am Schreibtisch saß. Die zweite Möglichkeit ist natürlich, dass er am Schreibtisch saß und eine Nachricht schrieb, aber in diesem Fall muss es eine ganz andere Nachricht gewesen sein. Er kann nicht geschrieben haben, dass er nicht warten könnte. Und die dritte…»
«Ja?»
«Nun, die dritte ist natürlich, dass Mrs Protheroe Recht hatte und tatsächlich niemand im Zimmer war.»
«Sie meinen, dass er wieder hinausging und später zurückkam?»
«Ja.»
«Aber warum sollte er das getan haben?»
Miss Marple spreizte in einer ratlosen Geste die Hände.
«Das würde bedeuten, wir müssten den Fall aus völlig anderer Sicht betrachten», sagte ich.
«Das muss man so oft tun – bei allem. Finden Sie nicht?»
Ich gab keine Antwort. In Gedanken ging ich sorgfältig die drei Möglichkeiten durch, die Miss Marple vorgeschlagen hatte.
Mit einem leichten Seufzen stand die alte Dame auf.
«Ich muss zurück. Ich bin sehr froh, dass wir diese kleine Unterhaltung hatten – obwohl wir nicht sehr weit gekommen sind, nicht wahr?»
«Ehrlich gesagt», ich holte ihren Schal, «kommt mir die ganze Sache wie ein verwirrendes Labyrinth vor.»
«Oh, das würde ich nicht sagen. Ich glaube, im großen Ganzen passt eine Theorie auf fast alles. Das heißt, wenn Sie einen Zufall einkalkulieren – und ich glaube, ein Zufall ist zulässig. Mehr als einer ist natürlich unwahrscheinlich.»
«Glauben Sie das wirklich? Das mit der Theorie, meine ich?»
«Ich gebe zu, dass meine Theorie eine schwache Stelle hat – eine Tatsache, über die ich nicht hinwegkomme. Ach, wenn nur diese Nachricht ganz anders gelautet hätte…»
Sie seufzte und schüttelte den Kopf. Dann ging sie zur Glastür, hob die Hand und befühlte die ziemlich elend aussehende Pflanze auf dem Ständer dort.
«Wissen Sie, Mr Clement, diese Pflanze sollte öfter gegossen werden. Armes Ding, sie hat es sehr nötig. Ihr Mädchen sollte sie täglich gießen. Ich nehme an, sie kümmert sich darum?»
«So wie sie sich um alles kümmert», sagte ich.
«Ein bisschen unzuverlässig im Moment?»
«Ja. Und Griselda weigert sich hartnäckig, ihr zu kündigen. Sie glaubt, dass nur ein völlig untüchtiges Mädchen bei uns bleibt. Aber Mary selbst hat uns gestern gekündigt.»
«Wirklich? Ich dachte immer, sie würde sehr an Ihnen beiden hängen.»
«Das ist mir noch nicht aufgefallen», sagte ich. «Es war allerdings Lettice Protheroe, die sie geärgert hat. Mary kam ziemlich aufgewühlt von der gerichtlichen Untersuchung und traf Lettice hier an und – nun, sie hatten eine kleine Auseinandersetzung.»
«Oh!», sagte Miss Marple. Sie wollte gerade durch die Glastür gehen, da blieb sie plötzlich stehen und auf ihrem Gesicht spiegelten sich nacheinander die verschiedensten Empfindungen.
«Ach du meine Güte!», murmelte sie vor sich hin. «Ich war aber dumm. So war das also. Die ganze Zeit absolut möglich.»
«Pardon?»
Sie wandte mir das besorgte Gesicht zu.
«Nichts. Mir ist gerade etwas eingefallen. Ich muss nach Hause und die Dinge gründlich durchdenken. Wissen Sie, ich glaube, ich bin äußerst dumm gewesen – fast unglaublich.»
«Das kann ich mir kaum vorstellen», sagte ich ritterlich.
Ich begleitete sie durch die Glastür und über den Rasen. «Können Sie mir sagen, was Ihnen so plötzlich eingefallen ist?»
«Lieber nicht – im
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