Mord im Pfarrhaus
Punkt, der mich verwirrt. Sie und Colonel Melchett – das hätte ich überhaupt nicht erwartet.»
Ich schilderte ihr den Telefonanruf und dass ich geglaubt hatte, Hawes Stimme zu erkennen. Miss Marple nickte nachdenklich.
«Sehr interessant. Sehr schicksalhaft – wenn ich den Begriff gebrauchen darf. Ja, es brachte Sie im richtigen Moment hierher.»
«Richtig wofür?», fragte ich bitter.
Miss Marple sah überrascht aus. «Um Hawes Leben zu retten natürlich.»
«Glauben Sie nicht», sagte ich, «dass es besser sein könnte, Hawes würde nicht davonkommen? Besser für ihn – besser für alle. Wir wissen jetzt die Wahrheit und…»
Ich unterbrach mich, denn Miss Marple nickte mit einer so sonderbaren Heftigkeit, dass ich den Faden verlor.
«Natürlich», sagte sie. «Natürlich! Das sollen Sie denken, das will er! Dass Sie die Wahrheit wissen – und dass es so am besten für alle ist. Oh ja, das alles passt – der Brief und die Überdosis und der Geisteszustand des armen Mr Hawes und sein Geständnis. Das alles passt – aber es ist alles falsch…»
Wir starrten sie an.
«Deshalb bin ich so froh, dass Mr Hawes in Sicherheit ist – im Krankenhaus –, wo niemand ihm etwas antun kann. Wenn er durchkommt, wird er Ihnen die Wahrheit sagen.»
«Die Wahrheit?»
«Ja – dass er Colonel Protheroe nie ein Haar gekrümmt hat.»
«Aber der Telefonanruf», sagte ich. «Der Brief – die Überdosis. Es ist alles so klar!»
«Das will er Sie glauben machen. Oh, er ist sehr klug! Den Brief zu behalten und ihn auf diese Weise zu benutzen war tatsächlich sehr klug.»
«Wen meinen Sie», fragte ich, «mit er?»
«Ich meine den Mörder», sagte Miss Marple.
Sehr ruhig fügte sie hinzu: «Ich meine Mr Lawrence Redding.»
Dreißigstes Kapitel
W ir starrten sie an. Ich glaube wirklich, dass wir ein paar Sekunden lang dachten, sie hätte den Verstand verloren. Die Beschuldigung wirkte so ganz und gar widersinnig.
Colonel Melchett sprach als Erster. Sein Ton war freundlich und von einer Art mitleidiger Toleranz.
«Das ist absurd, Miss Marple», sagte er. «Der junge Redding ist absolut außer Verdacht.»
«Natürlich», sagte Miss Marple. «Dafür hat er gesorgt.»
«Im Gegenteil», sagte Colonel Melchett trocken. «Er hat sein Bestes getan, um des Mordes angeklagt zu werden.»
«Ja», bestätigte Miss Marple. «So hat er uns völlig eingewickelt – mich so gut wie alle anderen. Sie werden sich erinnern, lieber Mr Clement, dass ich ziemlich überrascht war, als ich hörte, dass Mr Redding das Verbrechen gestanden hatte. Es brachte alle meine Überlegungen durcheinander und bewirkte, dass ich ihn für unschuldig hielt – obwohl ich bis dahin von seiner Schuld überzeugt war.»
«Dann war es Lawrence Redding, den Sie verdächtigten?»
«Ich weiß, in Büchern ist es immer die unwahrscheinlichste Person. Aber nach meiner Beobachtung trifft diese Regel nie auf das wirkliche Leben zu. So oft stimmt gerade das Naheliegende. Ich habe Mrs Protheroe immer sehr geschätzt, aber ich musste dennoch zu dem Schluss kommen, dass sie völlig unter Mr Reddings Einfluss stand und alles tun würde, was er ihr sagte. Und er ist natürlich nicht der junge Mann, der auch nur im Traum daran denkt, mit einer mittellosen Frau davonzulaufen. Von seinem Standpunkt aus musste Colonel Protheroe aus dem Weg geräumt werden – und so beseitigte er ihn. Einer dieser charmanten jungen Männer ohne jede Moral.»
Colonel Melchett hatte schon eine Zeit lang ungeduldig geschnaubt. Jetzt platzte er heraus: «Absoluter Unsinn – die ganze Theorie! Reddings Alibi ist lückenlos bis 6.50 und Haydock sagt aus, dass Protheroe um diese Zeit nicht erschossen worden sein kann. Oder wollen Sie andeuten, dass Haydock absichtlich lügt – der Himmel weiß, warum?»
«Ich glaube, Dr. Haydocks Aussage entsprach absolut der Wahrheit. Er ist ein sehr redlicher Mann. Und natürlich war es Mrs Protheroe, die Colonel Protheroe tatsächlich erschossen hat – nicht Mr Redding.»
Wieder starrten wir sie an. Miss Marple zupfte ihr Spitzentuch zurecht, schob den weichen Schal zurück, den sie über den Schultern trug und begann uns auf altjüngferliche Weise einen sanft dahinplätschernden Vortrag zu halten, der die erstaunlichsten Behauptungen auf die selbstverständlichste Art zusammenfasste.
«Bis jetzt hielt ich es nicht für richtig, mich zu Wort zu melden. Die eigene Meinung – selbst wenn sie so stark ist, dass sie dem Wissen nahe kommt – ist
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