Mord im Pfarrhaus
nur ein Albtraum, aber ein paar endlose Minuten lang erschien er mir entsetzlich wirklich.
Ich weiß nicht, ob Miss Marple davon überhaupt eine Ahnung hatte. Ich nehme es an. Ihr bleibt wenig verborgen.
Sie gab mir den Brief mit einem Kopfnicken zurück.
«Das ging im ganzen Dorf herum», sagte sie, «und es sah ziemlich verdächtig aus, nicht wahr? Besonders weil Mrs Archer bei der gerichtlichen Untersuchung schwor, dass die Pistole noch im Häuschen war, als sie am Mittag ging.»
Sie schwieg einen Moment, dann sprach sie weiter.
«Aber ich schweife schrecklich ab. Ich will Ihnen meine eigene Erklärung des Falls geben – das halte ich für meine Pflicht. Wenn Sie mir nicht glauben – nun, dann habe ich mein Bestes getan. Selbst so könnte mein Wunsch, ganz sicher zu sein, bevor ich rede, den armen Mr Hawes das Leben gekostet haben.»
Wieder machte sie eine Pause, und als sie fortfuhr, war es in einem anderen Ton. Weniger entschuldigend, entschlossener.
«Hier ist meine eigene Erklärung der Tatsachen. Am Donnerstagnachmittag war das Verbrechen bis in alle Einzelheiten geplant. Lawrence Redding ging zuerst zum Pfarrer, von dem er wusste, dass er ausgegangen war. Er hatte die Pistole dabei, die er in diesem Blumentopf auf dem Ständer am Fenster versteckte. Als der Pfarrer kam, erklärte Lawrence seinen Besuch mit der Erklärung, er habe sich entschlossen wegzugehen. Um fünf Uhr dreißig rief Lawrence Redding von North Lodge aus den Pfarrer mit verstellter, weiblich klingender Stimme an (Sie erinnern sich, was für ein guter Amateurschauspieler er war).
Mrs Protheroe und ihr Mann waren gerade ins Dorf gefahren. Und – eine sehr merkwürdige Sache (obwohl niemand es dafür hielt) – Mrs Protheroe nahm keine Handtasche mit. Wirklich höchst ungewöhnlich für eine Frau. Gerade vor zwanzig nach sechs geht sie an meinem Garten vorbei, bleibt stehen und spricht mit mir, damit ich jede Gelegenheit habe zu sehen, dass sie keine Waffe dabei hat und ganz wie immer wirkt. Es war ihnen klar, verstehen Sie, dass ich eine gute Beobachterin bin. Sie verschwindet um die Ecke des Hauses zur Glastür des Arbeitszimmers. Der arme Colonel sitzt am Schreibtisch und schreibt seinen Brief an Sie. Er ist schwerhörig, wie wir alle wissen. Sie nimmt die Pistole aus dem Topf, schleicht sich hinter ihn und schießt ihn durch den Kopf, wirft die Pistole weg und ist blitzschnell wieder draußen, wo sie durch den Garten zum Atelier geht. Fast jeder würde schwören, dass ihr keine Zeit für das Verbrechen blieb!»
«Aber der Schuss?», widersprach der Colonel. «Sie haben doch den Schuss nicht gehört?»
«Es gibt, glaube ich, eine Erfindung, die Maximschalldämpfer heißt. Das weiß ich aus Kriminalromanen. Ich frage mich, ob das Niesen, das Clara, das Dienstmädchen, gehört hat, möglicherweise der Schuss gewesen sein könnte? Aber egal. Am Atelier wartet Mr Redding auf Mrs Protheroe. Sie gehen zusammen hinein – und da auch ihnen die menschliche Natur bekannt ist, wissen sie wohl, dass ich den Garten nicht eher verlassen werde, bis sie wieder herauskommen!»
Miss Marple war mir nie sympathischer als in diesem Moment, wo sie so humorvoll ihre eigene Schwäche eingestand.
«Als sie dann herauskommen, ist ihr Verhalten heiter und natürlich. Und da haben sie einen Fehler gemacht. Denn wenn sie wirklich voneinander Abschied genommen hätten, wie sie vorgaben, hätten sie ganz anders ausgesehen. Aber, verstehen Sie, hier war ihr schwacher Punkt. Sie wagen es einfach nicht, einen irgendwie erregten Eindruck zu machen. In den nächsten zehn Minuten achten sie sorgsam darauf, sich zu beschaffen, was man, glaube ich, ein Alibi nennt. Schließlich geht Mr Redding ins Pfarrhaus und verlässt es so spät, wie er es noch riskieren kann. Vielleicht sah er Sie aus der Ferne auf dem Fußweg und konnte so die Zeit abstimmen. Er nimmt die Pistole und den Schalldämpfer mit, lässt den gefälschten Brief mit der Zeitangabe in anderer Tinte und offenbar anderer Schrift zurück. Wenn die Fälschung entdeckt wird, sieht sie aus wie ein ungeschickter Versuch, Anne Protheroe zu belasten.
Aber als er den Brief zurücklässt, findet er den anderen, den Colonel Protheroe tatsächlich geschrieben hat – etwas ganz Unerwartetes. Und da er ein ausgesprochen intelligenter junger Mann ist und begreift, dass ihm dieser Brief sehr nützlich sein kann, nimmt er ihn mit. Er stellt die Zeiger der Uhr auf die gleiche Zeit, die im Brief angegeben ist –
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