Mord im Spiegel
Schlüsse gezogen. Sehr gründlich sogar.«
»Lassen Sie hören!«
»Wenn man an jenem Tag das Cocktailglas präpariert hat – ich weiß nur noch nicht, wie…«
»Vielleicht hatte der Täter das Zeug in einer Pipette.«
»Sie sind immer gleich so professionell«, sagte Miss Marple bewundernd. »Aber selbst dann finde ich es sehr seltsam, dass niemand den Vorfall beobachtete.«
»Ein Mord geschieht nicht nur, sondern irgendjemand sieht auch, wie er geschieht. Wollen Sie darauf hinaus?«
»Ja, genau.«
»Ein Risiko, das der Mörder eingehen musste«, erklärte Haydock.
»Schon. Das bestreite ich nicht. Aber wie ich festgestellt habe, sind mindestens achtzehn bis zwanzig Personen zur Tatzeit in der Halle gewesen. Ich bin der Meinung, dass einer von ihnen etwas gesehen haben muss.«
Haydock nickte. »Ja. Aber offensichtlich ist es nicht der Fall.«
»Ich habe meine Zweifel«, antwortete Miss Marple nachdenklich.
»Was meinen Sie nun wirklich?«
»Es gibt drei Möglichkeiten. Wobei ich annehme, dass wenigstens eine Person etwas beobachtet hat. Eine von zwanzig. Ich halte das für einen vernünftigen Prozentsatz.«
»Ich fürchte, Sie geraten auf Abwege«, sagte Haydock, »das klingt mir eher nach einer dieser schrecklichen Denksportaufgaben – wenn sechs Männer weiße Hüte tragen und sechs Männer schwarze, muss man irgendwie errechnen, wie sie durcheinandergeraten und in welchem Verhältnis. Nein, wenn Sie solche Überlegungen anstellen, werden Sie verrückt. Das kann ich Ihnen versichern.«
»An so was habe ich ja gar nicht gedacht«, erklärte Miss Marple. »Ich habe nur überlegt, dass…«
»Ja«, warf Haydock nachdenklich ein, »so was können Sie hervorragend. Haben Sie immer gekonnt!«
»Es ist doch wahrscheinlich, verstehen Sie«, sagte Miss Marple, »dass zumindest einer von zwanzig eine gute Beobachtungsgabe besitzt.«
»Ich gebe mich geschlagen«, erwiderte Haydock. »Lassen Sie Ihre drei Möglichkeiten hören.«
»Ich fürchte, ich kann es Ihnen nur in groben Umrissen erklären«, meinte Miss Marple, »weil ich es noch nicht gründlich durchdacht habe. Chefinspektor Craddock und Cornish werden sicherlich alle Gäste befragt haben, und üblicherweise würde derjenige, der etwas beobachtet hat, es auch sofort sagen.«
»Ist das eine der drei Möglichkeiten?«
»Nein, nein, denn das ist nicht geschehen. Wir müssen uns vielmehr fragen, warum hat diese Person geschwiegen, obwohl sie etwas beobachtete?«
»Ich höre.«
»Möglichkeit eins«, begann Miss Marple, deren Wangen sich mit einem rosigen Schimmer überzogen hatten. »Die Person, die etwas sah, ist sich dessen nicht bewusst. Was natürlich bedeutet, dass diese Person nicht gerade eine Leuchte ist. Der Typ, der verneint, wenn man zum Beispiel fragte: ›Haben Sie beobachtet, wie jemand etwas in Marina Greggs Glas warf?‹ Der aber ›Ja, selbstverständlich‹ sagt, wenn man ihn fragte, ob er sah, wie jemand die Hand über Marina Greggs Glas legte.«
Haydock lachte. »Ich gebe zu«, rief er, »dass man an den Trottel immer zuletzt denkt. Schön, das ist Möglichkeit eins: Der Dummkopf sah es zwar, begriff aber nicht, was es bedeutete. Und die zweite Möglichkeit?«
»Sie ist ziemlich weit hergeholt, trotzdem ist es denkbar. Es kann ein ganz normaler Vorgang gewesen sein.«
»Augenblick, bitte. Das müssen Sie mir genauer erklären.«
»Heutzutage tun die Leute immer irgendetwas ins Essen oder in ihre Drinks. Als ich jung war, hielt man es für sehr ungezogen, wenn man während des Essens ein Medikament einnahm. Es wurde genauso missbilligt wie das Naseputzen bei Tisch. Es gehörte sich nicht. Wenn man eine Tablette oder Kapsel oder eine Löffelspitze voll irgendetwas nehmen musste, verließ man dazu das Zimmer. Heute ist das anders. Als ich bei meinem Neffen Raymond eingeladen war, beobachtete ich, dass ein paar Gäste mit einem Haufen Fläschchen und Schächtelchen ankamen. Sie nehmen die Medikamente mit dem Essen oder davor oder danach. Sie tragen Aspirin und Ähnliches in der Handtasche mit sich herum und schlucken immer irgendeine Tablette – mit einer Tasse Tee oder mit dem Kaffee nach dem Essen. Verstehen Sie, was ich meine?«
»Ja. Ich weiß jetzt, worauf Sie hinauswollen. Sehr interessant. Sie meinen, dass jemand – « Er schwieg. »Erzählen Sie es lieber mit Ihren eigenen Worten«, meinte er dann.
»Es könnte also möglich sein – ziemlich kühn, aber möglich –, dass jemand das Glas nahm und so tat, als sei
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