Mord im Spiegel
es sein eigenes, und ganz unverblümt etwas hineinwarf. In so einem Fall würde sich kein Mensch etwas denken.«
»Damit konnte er – oder sie – aber nicht rechnen«, bemerkte Haydock.
»Ja, schon«, pflichtete ihm Miss Marple bei. »Riskant, aber vorstellbar. Außerdem gibt es noch die dritte Möglichkeit«, fügte sie hinzu.
»Nummer eins ein Dummkopf«, sagte Haydock. »Nummer zwei eine Spielernatur – und wer ist Ihrer Ansicht nach Nummer drei?«
»Jemand, der genau Bescheid weiß und schweigt.«
Haydock runzelte die Stirn. »Aus welchem Grund?«, fragte er. »Wollen Sie andeuten, dass es sich um Erpressung handelt? Falls das – «
»Falls das stimmt«, ergänzte Miss Marple, »ist das eine gefährliche Sache.«
»Ja, ganz meine Meinung.« Haydock betrachtete die freundliche alte Dame mit dem Haufen weißer Wolle im Schoß. »Halten Sie die dritte Möglichkeit für die wahrscheinlichste?«
»Nein«, antwortete Miss Marple. »So weit möchte ich nicht gehen. Dazu habe ich im Augenblick zu wenig Anhaltspunkte. Wenn noch jemand getötet werden würde, wäre dies allerdings etwas anderes.«
»Glauben Sie, dass der Täter wieder zuschlägt?«
»Ich hoffe es nicht«, sagte Miss Marple ernst, »ich bete darum, dass ich mich täusche. Aber oft passiert es, Doktor Haydock. Eine traurige, schreckliche Sache. So etwas passiert sehr oft.«
17
E lla legte den Hörer auf und trat lächelnd aus der Telefonzelle. Sie war sehr mit sich zufrieden.
»Wenn der allmächtige Chefinspektor wüsste!«, sagte sie leise. »Ich bin zweimal so klug wie er. Variationen zu dem Thema: Zahl oder stirb!«
Mit großem Vergnügen stellte sie sich vor, was für ein Entsetzen die Person am anderen Ende der Leitung empfunden haben musste – als sie das leise drohende Flüstern hörte.
»Ich habe Sie beobachtet…«
Sie lachte leise in sich hinein, wobei sich ihre Mundwinkel höhnisch nach oben zogen. Ein Psychologiestudent hätte sie sicherlich mit einem gewissen Interesse beobachtet. Noch nie hatte sie ein derartiges Gefühl der Macht gehabt wie in den letzten paar Tagen. Es war ihr kaum bewusst, wie dieser Machtrausch sie verändert hatte…
Sie kam an der »East Lodge«, vorbei, und Mrs Bantry, die wie üblich eifrig im Garten arbeitete, winkte ihr zu.
Verdammtes altes Weib, dachte Ella. Sie spürte, wie ihr Mrs Bantry mit den Blicken folgte, während sie die Auffahrt entlangging.
Aus keinem besonderen Grund fiel ihr plötzlich ein Sprichwort ein: Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht…
Unsinn, überlegte sie, kein Mensch konnte vermuten, dass sie es war, die diese drohenden Worte geflüstert hatte.
Sie musste niesen. »Dieser ekelhafte Heuschnupfen«, schimpfte Ella. Als sie in ihr Büro trat, stand Rudd wartend am Fenster. Er fuhr herum und sagte: »Wo, in aller Welt, sind Sie gewesen!«
»Ich hatte etwas mit dem Gärtner zu besprechen. Es gab – « Sie brach ab, als sie sein Gesicht sah. Sie fragte abrupt: »Was ist los?«
Seine Augen schienen tiefer in den Höhlen zu liegen als je. Alle Fröhlichkeit eines Clowns war verschwunden. Geblieben war die Miene eines Mannes, der unter höchster nervlicher Anspannung steht. Sie hatte ihn früher schon in schwierigen Situationen erlebt, aber noch nie hatte er so ausgesehen wie jetzt. »Was ist los?«, fragte sie noch einmal.
Er reichte ihr ein Blatt Papier. »Die Analyse des Kaffees. Marina wollte ihn nicht trinken, weil er angeblich seltsam schmeckte.«
»Sie haben ihn untersuchen lassen?« Sie war sehr aufgeregt. »Aber Sie haben ihn weggeschüttet. Ich habe es selbst beobachtet.«
Sein breiter Mund verzog sich zu einem Lächeln. »Ich habe sehr flinke Finger, Ella«, sagte er. »Das wussten Sie nicht, nicht wahr? Ja, das meiste habe ich weggegossen. Doch ein wenig habe ich zurückbehalten und zur Untersuchung eingeschickt.«
Sie blickte auf das Blatt in ihrer Hand. »Arsen!« Ihre Stimme klang ungläubig.
»Ja, Arsen!«
»Also hatte Marina mit ihrer Behauptung Recht? Der Kaffee schmeckte tatsächlich bitter?«
»Nein, damit hatte sie nicht Recht. Arsen kann man nicht schmecken. Sie reagierte ganz instinktiv.«
»Und wir hielten sie einfach für hysterisch.«
»Sie ist auch hysterisch. Wer wäre das in diesem Fall nicht? Eine Frau wird praktisch vor ihren Augen vergiftet. Sie erhält Drohbriefe – einen nach dem anderen… Heute kam doch keiner, nicht wahr?« Ella schüttelte den Kopf.
»Wer schmuggelt diese verdammten Dinger herein? Ach, es
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