Mord in Babelsberg
Mordfällen wird die folgende, bislang nicht identifizierte Frau als Zeugin gesucht. Sie hat Mitte April nachweislich Kontakt zu der ermordeten Marlene Dornow gehabt.
Sie ist Anfang zwanzig, hat rötlichbraunes Haar und stammt vermutlich aus einfachen Verhältnissen. Wer sie kennt oder Angaben zu ihrem Aufenthaltsort machen kann, setze sich bitte umgehend mit der Abteilung A des Polizeipräsidiums in Verbindung. Alle Hinweise werden auf Wunsch vertraulich behandelt.
Er saß da, die Hand vor dem Mund, neben sich die Tasse mit dem Kaffee, der langsam abkühlte, äußerlich ungerührt, während in seinem Inneren ein Widerstreit tobte. Wenn er dazu beitragen konnte, ein Verbrechen aufzuklären, war es seine Pflicht als Bürger, zur Polizei zu gehen. Dagegen stand jedochdie Schweigepflicht. Er stand auf und ging im Zimmer auf und ab, wobei er gelegentlich einen Blick auf die Zeichnungen warf. Sie zeigten eindeutig Johanna Gerber.
Dann traf er seine Entscheidung. Wenn er behutsam vorging und die Polizei um Vorsicht bat, wenn er darauf bestand, bei möglichen Gesprächen anwesend zu sein, konnte es womöglich seiner Patientin helfen. Die Frau war schwer traumatisiert, sein ganzes medizinisches Können hatte bislang nichts gefruchtet. Vielleicht war es der einzige Weg, sie aus ihrer Starre zu reißen und Licht in ihre Vergangenheit zu bringen. Denn als Arzt war er auch verpflichtet, alles zu tun, was dem Wohl seiner Patientin diente und ihre Heilung ermöglichte.
Er öffnete die Tür zum Vorzimmer. »Verbinden Sie mich mit dem Polizeipräsidium.«
Fräulein Meinelt blickte auf, als Leo hereinkam. »Sie haben Besuch, Herr Kommissar.«
Ein älterer, einfach gekleideter Mann saß auf dem Besucherstuhl und drehte seinen Hut in den Händen. Er erhob sich, als er Leo sah, und streckte ihm die Hand hin. »Dornow, Egon, aus Ahlbeck.«
Bevor er den Mann begrüßen konnte, sagte Fräulein Meinelt: »Die Leiche der Verstorbenen wurde am Samstag zur Bestattung freigegeben. Ich hatte Ihnen die Meldung auf den Schreibtisch gelegt. Daraufhin habe ich in Ahlbeck angerufen und Herrn Dornow Bescheid geben lassen. Er hat sich entschieden, die Überführung selbst zu veranlassen.«
Leo legte Marlene Dornows Vater die Hand auf den Arm und deutete auf die Bürotür. »Kommen Sie.«
Als er dem Mann gegenübersaß, bemerkte er dessen zerknitterten Anzug. Er sah aus, als hätte er darin geschlafen. Tiefe Schatten unter den Augen. Unrasiert. »Haben Sie schon gefrühstückt?«
Dornow schüttelte unwillig den Kopf. »Nein. Ist auch nicht nötig.«
»Meine Sekretärin besorgt Ihnen Kaffee und etwas zu essen.« Nachdem er mit Fräulein Meinelt gesprochen hatte, setzte er sich wieder.
»Im Leichenschauhaus wird man Ihnen helfen, den Sarg zum Bahnhof zu transportieren, und sich um die weiteren Formalitäten kümmern.«
Dornow wirkte immer noch abwesend. »Alles ist bereit. Lene wird neben ihrer Mutter liegen. Unter der großen Linde. Der Pfarrer wartet schon, alles ist bereit.«
»Gut. Ich sorge dafür, dass ein Beamter Sie in die Hannoversche Straße fährt. Dort können Sie auch die erforderlichen Papiere unterzeichnen.«
Plötzlich blickte der alte Mann auf. »Haben Sie ihn? Wer hat es getan?«
Leo stand auf, als er Fräulein Meinelt im Vorzimmer hörte, nahm Kaffee und Stulle in Empfang und stellte seinem Besucher das Frühstück hin.
»Essen Sie.«
»Aber ich hab Sie was gefragt. Haben Sie den Mörder von Lene gefunden?«
»Noch nicht. Aber wir machen Fortschritte. Ist Ihnen noch etwas eingefallen, das uns weiterhelfen könnte?«
Dornow stellte die Kaffeetasse so heftig ab, dass die Flüssigkeit überschwappte. »Ich hab doch gesagt, sie hat nie geschrieben. Ich weiß nicht mal, wo sie gewohnt hat. Mein letzter Brief kam zurück. Unbekannt verzogen. Das ist Jahre her.«
Die Wohnung. Das hatte Leo völlig vergessen. »Herr Dornow, Sie müssen auch die Wohnung Ihrer Tochter auflösen. Ihre ganzen Besitztümer sind noch darin, wertvolle Möbel, Pelze. Ihr Schmuck, der in einem Banksafe lag. Das alles gehört Ihnen, Sie sind vermutlich der Alleinerbe. Ihre Tochter hat kein Testament hinterlassen.«
»Warum sollte sie auch?«, rief der Vater empört. »Sie war erst dreißig! Da denkt man nicht an den Tod.«
»Natürlich.« Trotz seines Mitgefühls verspürte Leo eine leise Ungeduld. Er hatte zwei Mordfälle aufzuklären; diese Angelegenheit hier musste jemand anders übernehmen. Er stand auf und klopfte an die Verbindungstür,
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