Mord in Babelsberg
Nervenheilanstalt gehöre. Sie wurde von ihrem Bruder, Herrn August Gerber, in die Charité gebracht. Er stimmte einer Weiterbehandlung in unserem Hause zu.«
»Weshalb wurde sie hier eingeliefert?«, fragte Leo gespannt.
»Der Bruder gab zu Protokoll, sie sei am 6. Mai zu ihm nach Hause gekommen, in Tränen aufgelöst, einem Zusammenbruch nahe. Nachdem sie aufgehört hatte zu weinen, verfiel sie in einen katatonischen Zustand, aus dem er sie trotz aller Bemühungen nicht herausholen konnte. Wegen seiner beengten Wohnverhältnisse und da er sich keinen Rat wusste, brachte er sie am 8. Mai in die Charité.«
Hartung schob Leo die Akte hin. »Sie können es sich durchlesen. Leider sind unsere medizinischen Bemühungen bislang erfolglos verlaufen. Ich habe kürzlich mit der Schwägerin gesprochen. Sie konnte mir nicht viel Neues sagen. Nur dass Fräulein Gerber davon träumte, Kostümschneiderin beim Film oder Theater zu werden.«
»Das ist die Verbindung«, sagte Walther.
Hartung sah ihn fragend an. »Verbindung?«
»Wir ermitteln in den Mordfällen Dornow und König. Marlene Dornow wurde in den letzten Monaten mindestens zweimal – im Kaufhaus und beim Friseur – mit einer Frau gesehen, bei der es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um Johanna Gerber handelt. Wir haben die Zeichnungen mit Hilfe von Zeugen erstellen lassen. Wenn wir eine Verbindung zur Filmbranche nachweisen können, haben wir womöglich das fehlende Bindeglied zu Viktor König gefunden.«
»Nicht so schnell«, warf Leo ein. »Herr Dr. Hartung sagt, sie habe davon geträumt, beim Film zu arbeiten. Das heißt noch lange nicht, dass sie tatsächlich etwas …« Er hielt inne. »Hat die Schwägerin gesagt, wo Fräulein Gerber gearbeitet hat?«
»Nur dass es eine Schneiderei war.«
Leo notierte sich August Gerbers Adresse. »Kann ich im Vorzimmer telefonieren?«
»Natürlich.«
Er ging nach nebenan und ließ sich mit dem Präsidium verbinden. »Fräulein Meinelt, schicken Sie bitte einen Beamten in die Cösliner Straße 12. Er soll sich von Herrn August Gerber die Anschrift der Schneiderei geben lassen, in der seine Schwester Johanna gearbeitet hat. Danke. Auf Wiederhören.« Er hängte ein und kehrte ins Büro des Arztes zurück.
»Wir würden gern mit der Patientin sprechen.«
Die Stille, die sich über den Raum senkte, war beinahe greifbar. Dr. Hartungs Gesicht wirkte plötzlich abweisend. »Das kann ich nicht gestatten. Sie hat sich letzte Woche den Arm mit einem Füllfederhalter zerstochen. Möglicherweise ein Suizidversuch.«
Leo zog eine Augenbraue hoch. »Sie wissen, worum es hier geht.«
»Durchaus. Aber das Wohl meiner Patientin ist für michoberstes Gebot, nicht die Aufklärung eines Kriminalfalls. Das mag herzlos klingen, doch das ist es nicht. Ich bin Johanna Gerbers Arzt und habe zuallererst die Pflicht, sie zu schützen.«
Leo überlegte. Sie waren an einem entscheidenden Punkt angelangt, aber der Weg zu Johanna Gerber führte über ihren Arzt. »Bitte, Herr Dr. Hartung. Mein Kollege und ich wollen zwei Morde aufklären, und Sie wollen herausfinden, was Ihrer Patientin zugestoßen ist. Einmal angenommen, das eine hinge mit dem anderen zusammen?«
20
»Wir mussten sie vorübergehend fixieren«, erklärte Dr. Hartung mit aufrichtigem Bedauern. »Im Grunde halte ich nichts davon, Patienten zu fesseln, das sind Methoden aus dem vorigen Jahrhundert, aber wenn sie sich selbst gefährden, geht es nicht anders. Zum Glück ist sie jetzt ruhig genug, um ihr mehr Freiheit zu lassen.«
»Hat Fräulein Gerber überhaupt nicht gesprochen, seit sie hier ist?«, fragte Leo, während der Arzt sie durch den Park zu einem der Pavillons führte, in denen die Kranken untergebracht waren.
Hartung schüttelte den Kopf. »Nichts. Sie hat geschrien, das waren die einzigen Äußerungen.«
Sie betraten eines der flachen, lang gestreckten Gebäude. Im Flur hingen Bilder an den Wänden, man bemühte sich um eine helle, fröhliche Atmosphäre. Es duftete nach einem Reinigungsmittel, das einen schwachen, unangenehmen Geruch fast überdeckte. Urin? Erbrochenes? Es war kaum wahrnehmbar. Leo kam die Überlagerung der Gerüche vor wie ein Symbol für den vergeblichen Versuch, das Elend hinter den Türen auszublenden.
»Zurzeit ist sie in einem Einzelzimmer untergebracht, bis sich ihr Zustand stabilisiert hat«, erklärte der Arzt.
In der Tür befand sich auf Augenhöhe ein kleines, verglastes Fenster. Leo schaute hinein. Die junge Frau war im Profil
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