Mord in Der Noris
Nürnberger Wohnungsbaugenossenschaft
verwaltet wurde. Vom Vorzeigegebäude zum sozialen Wohnungsbau.
Es dauerte eine Weile, bis sie das gesuchte
Klingelschild ausfindig gemacht hatte. Die meisten waren mit einem
handschriftlichen Papierstreifen versehen und schon unzählige Male überklebt,
nicht so das von Elvira Platzers Mutter. »Rupp, A.« stand auf dem
Metallschild neben dem Klingelknopf. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis die
Tür aufsprang. Paula stieg in den sechsten Stock hoch, verzichtete bewusst auf
die Dienste des Aufzugs, auch das ein Teil ihrer sportlichen Trainingsmaßnahme.
Neben den meisten Wohnungstüren standen billige Schuhpaare, Kinder-, Damen-,
Herrenschuhe aus dem Discounter mit deutlichen Gebrauchsspuren. Auch da machte
Apolonia Rupp eine Ausnahme: Vor ihrer Wohnungstür lag lediglich ein neuer
schwarzer Fußabstreifer.
Die hochgewachsene Frau – dünne Lippen, schmale Nase,
weißer Teint, glattes, fast weißes Haar, das hinten zu einem winzigen Dutt
zusammengesteckt war –, die unter dem Türrahmen stehend wartete, empfing Paula
mit einem hochmütigen Blick. Sie stellte sich vor.
»Können Sie sich ausweisen?«
»Ja, natürlich.« Paula hielt Frau Rupp den Ausweis
hin, den diese sofort ergriff. Die gut Siebzigjährige schien unter einer
ausgeprägten Altersweitsichtigkeit zu leiden, so weit, wie sie den Ausweis von
sich weg hielt. Nachdem sie ihn ausführlich studiert hatte, fragte sie
unfreundlich: »Und was führt Sie zu mir?«
»Kann ich hereinkommen, Frau Rupp? Ich denke, das, was
ich Ihnen zu sagen habe, sollte man besser nicht im Treppenhaus besprechen.«
Widerwillig wurde sie hereingebeten und folgte Frau
Rupp in deren gute Stube.
Es war die typische Wohnung einer alten Frau, die
bessere Zeiten erlebt hatte und sich mit Hilfe ihrer Einrichtung gerne an diese
besseren Zeiten erinnerte. Fliesen in Marmoroptik in der Diele, Eichenlaminat im
Wohnzimmer, überall Orientteppiche, die neu aussahen. Ein Druck von Rembrandts
»Nachtwache« in breitem Goldrahmen über dem Esstisch aus schwerem Nussbaumholz.
Daneben ein riesiger Regulator und in der Ecke ein stattlicher
Kirschbaumsekretär mit vergoldeten Messingknöpfen und offen stehender, leer
geräumter, auf Hochglanz polierter Schreibtischlade.
Doch am meisten faszinierte Paula das altmodische
schwarze Telefon mit Wählscheibe aus Bakelit, das von einer weinroten
Brokathülle mit grünem Perlon-Spitzenband abgedeckt war. Es war lange her, dass
sie so etwas grausam Kitschiges gesehen hatte.
Artig setzte sie sich auf das ihr zugewiesene Sofa mit
dem großblumigen weinroten Muster und wartete, bis auch ihre Gastgeberin auf
einem hellen Holzstuhl Platz genommen hatte.
Bevor sie zu reden begann, bemerkte sie, dass Frau
Rupp braune Straßenschuhe aus Leder trug, die sie jetzt parallel zueinander in
Stellung brachte. Ihren noch immer argwöhnischen Blick versuchte sie, mit einem
freundlichen Lächeln zu neutralisieren. Es gelang ihr nicht, im Gegenteil. Frau
Rupps Misstrauen schien durch diese angestrengte Verbindlichkeit noch an
Schärfe zu gewinnen.
Sie eröffnete ihre zurechtgelegte Rede mit dem Satz:
»Ich bin Ihrer Tochter wegen da, Frau Rupp. Wir gehen davon aus, dass Sie
diejenige sind, die ihr am nächsten stehen?«
Sie erhielt keine Antwort. Also fuhr sie fort und
überbrachte ihre Nachricht vom gewaltsamen Tod der Elvira Platzer. Dann schwieg
sie und sah ihr Gegenüber aufmerksam an. Jetzt endlich hatte sich das Misstrauen
in den kleinen blassblauen wässrigen Augen verflüchtigt, war einer
vollständigen Leere gewichen.
Es war so ruhig in dem dunklen Zimmer, dass Paula das
Ticken des Regulators wie das laute Schlagen einer Kirchturmuhr vorkam.
Nach einer Weile richtete sich Apolonia Rupp auf ihrer
Stuhlkante kerzengerade auf und sagte halblaut: »Das musste ja so kommen.«
Die Art, wie sie anschließend ihre Augen kurz mit den
Händen bedeckte, um die Hände dann betont langsam in den Schoß zu legen und
dort zusammenzufalten, erschien Paula gekünstelt. Unecht wie das grüne
Perlon-Spitzenband des Telefonschoners.
»Wenn Sie jetzt allein sein möchten, akzeptiere ich
das natürlich. Dann komme ich gerne ein anderes Mal wieder. Wenn Sie sich aber
stark genug dafür fühlen, Frau Rupp, dann würde ich Ihnen gleich hier und jetzt
ein paar Fragen stellen.«
Das kurze Kopfnicken deutete sie als Einverständnis,
bleiben und fragen zu dürfen.
»Sie haben gerade gesagt: Das musste ja so kommen. Das
klingt, als hätten
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