Mord in der Vogelkoje
»Weißt du was, Nis? Für heute reicht’s. Lass uns nach Westerland zurückfahren. Den Rest des Tages würde ich von Herzen gern einfach Streife gehen und mich meines Lebens zwischen sorglosen Badegästen freuen.«
»Einverstanden. Ich muss auch einiges zu Papier bringen, bevor Sinkwitz mich wieder mahnt. Aber morgen fahren wir als Erstes zum Kapitän nach List. Er wird bestimmt aufgeschrieben haben, wie hoch sein jährlicher Anteil am Erlös war. Seine Zahlen können wir gut mit den Fangzahlen in Petersens Papieren vergleichen.«
Die Papiere, die ihnen Petersen notgedrungen überlassen hatte, lagen gebündelt in einem Aktenordner, in dem sich kein anderer Vorgang befand. Asmus holte sie aus der Schieblade im Schreibtisch und fing an zu blättern.
In den sogenannten Kojenbüchern fand er die Statuten, die Interessentenlisten und den Vertrag mit Dücke Eskeldsen. Sonst nichts. »Lorns, komm doch mal herüber«, rief er. Die Tür war offen, und Matthiesen unterhielt sich im vorderen Raum mit Jep, dem er von dem Beinaheunglück im Kojenhaus erzählte.
Matthiesen schlenderte herein. »Ist was?«
»Kannst du dich an die Listen mit den Fangzahlen erinnern?«, fragte Asmus. »An den Tag, als wir abends zu dritt zusammensaßen und die Kojenbücher studiert haben?«
»Natürlich. Drei oder vier Seiten waren es, schätze ich.«
»Ich wollte mich nur vergewissern, dass du die gleiche Erinnerung hast wie ich. Die Blätter fehlen.«
»Die Fangzahlen?«
»Ja, die Seiten mit den Fangzahlen sind fort.«
Matthiesen sah Asmus so ungläubig an, dass er sich sein Lachen verkneifen musste. Dabei war das Ganze alles andere als komisch. Jemand sabotierte ihre Ermittlungsarbeit.
Matthiesen machte Feierabend, Asmus blieb noch in der Wache, um sich den leidigen schriftlichen Arbeiten zu widmen. Wie er sie hasste!
Obendrein stand plötzlich Sinkwitz in der Tür, obwohl es gewiss nicht seine Gewohnheit war, abends zu arbeiten.
»Endlich treffe ich Sie mal an«, nörgelte er. »Was machen Sie eigentlich bei Tage? Gehen Sie segeln?«
Asmus ersparte sich und ihm eine Antwort.
»Ein Gast hat sich über den Nepp in der Blauen Maus beschwert. Die Preise für ein Glas Champagner oder Cuba libre seinen doppelt so hoch wie in Berlin, behauptete er. Für die Provinz sei das nicht zu akzeptieren, weil keine aufregenden Tänzerinnen aufträten und es überhaupt an anregender Unterhaltung fehle.«
»Frivoler Unterhaltung, meinen Sie?«
»Egal! Sie überprüfen morgen den Laden!«
»Ich habe aber …«
»Es handelt sich um einen Befehl, Wachtmeister Asmus.«
Asmus holte tief Luft.
K APITEL 11
Am selben Abend fuhr Asmus noch zu den Godbersens nach Keitum. Matthiesen wollte allen Ernstes Streife gehen, nachdem er so nahe am Abgrund gestanden hatte; Asmus selber sehnte sich nach Oses Nähe. Er wollte nicht mehr an das denken, was hätte passieren können: Sie beide in Brand gesteckt, das Kojenhaus voller Rauch – wer wusste schon, ob sie wirklich hinausgekommen wären.
Später wäre es damit begründet worden, sie hätten sich während des Dienstes eine Mahlzeit auf dem Kocher warm machen wollen und seien leichtfertig mit dem Gerät umgegangen. Nur Ose und die Männer auf der Werft Bahnsen wussten, dass Asmus exakt den gleichen Petroleumkocher auf seinem Boot hatte und gewohnt war, ihn zu bedienen.
Es war schon spät, aber der Abend war lau, und der Wind war völlig eingeschlafen. Ose kam um das elterliche Haus herumgerannt, wo sie offensichtlich im Garten gesessen hatte, während das Knattern des Motors erstarb und Asmus abstieg.
»Ist etwas passiert?«, fragte Ose beunruhigt und warf sich Asmus in die Arme.
Er nickte und sog dabei den Duft ihres frisch gewaschenen Haares nach Kamillenblüten ein. »Ich hätte heute um ein Haar Lorns verloren.«
»Um Himmels willen!«
»Diese Sache, die Sinkwitz so gleichgültig lässt, entwickelt sich zu einem lebensgefährlichen Unternehmen, in dem die Täter bedrohlicher werden, je mehr wir uns der Aufklärung nähern.«
»Tut ihr das denn?«
»Ich glaube, ja.«
»Aber du bist doch dann genauso gefährdet.«
»Ja, aber es ist die Arbeit, für die ich ausgebildet wurde und in der ich meine Erfahrungen habe. Lorns hat als Schupo gelernt, zwischen streitbaren Berliner Kinderfräulein und rasenden Fahrradfahrern zu schlichten. Ich bin trotzdem mit seiner Arbeit sehr zufrieden, damit du mich nicht falsch verstehst … Ich könnte keinen besseren Lehrling haben.«
Ose griff nach Asmus’
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