Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
politischen Hintergrund, und keiner trinkt mehr als landesüblich. Das allerdings ist eine ganze Menge.« Angewidert verzog er das Gesicht.
Pitt wusste nicht, ob das Stokers Vorstellung diesen Männern oder Ausländern ganz allgemein galt.
»Sie sind genau so, wie man sich die Bedienten eines unbedeutenden Herzogs vorstellt«, fuhr er fort. »Vermutlich einer wie der andere durchaus anständige Kerle.« Er hob den Blick von der Karte und sah Pitt mit einem Ausdruck an, den dieser nicht recht deuten konnte.
»Fähig, ihn vor einem Angriff zu schützen?«, erkundigte sich Pitt.
Stoker zuckte die Achseln. »Darüber kann ich nichts sagen, weil das noch nie erforderlich war. Ehrlich gesagt ist dieser Alois doch niemand, den man eines Angriffs für würdig halten würde. Geben wir seinem Gefolge einen unserer Leute bei?«
»Ja. Aber er muss Deutsch können.«
»Der Herzog spricht ziemlich gut Englisch«, gab Stoker zurück.
»Das ist gut. Trotzdem – wir müssen auch wissen, worüber die sich miteinander unterhalten«, gab Pitt zu bedenken.
»Da hätten wir Beck, Sir, und Holbein. Beide sind ziemlich gute Leute.«
»Dann nehmen wir die.«
Stoker hob die Brauen. »Beide?«
»Ja. Wir können uns keinen Fehlschlag leisten. Sollte ein österreichischer Herzog auf englischem Boden umgebracht werden, nachdem man uns gewarnt hat, würde das ein Signal an jeden unserer Feinde aussenden, dass wir waidwund sind. Danach würden sich die Schakale nur so um uns drängen.«
Stoker zuckte zusammen, als habe Pitt ihn geohrfeigt, aber sein Gesicht zeigte deutlich, dass er verstanden hatte. Förmlich sagte er: »Ja, Sir. Was auch immer ihm zustößt, wir werden dafür sorgen, dass das keinesfalls hier bei uns passiert!« Erneut beugte er sich konzentriert über die Karte. »Sofern die Wetterbedingungen das zulassen, verlässt das Fährschiff Calais um neun Uhr morgens. Dann müsste es am frühen Nachmittag in Dover eintreffen. Es ist vorgesehen, dass Herzog Alois als Erster an Land geht, wo eine Kutsche für ihn bereitsteht.« Er sah zu Pitt auf. »Was für ein Mensch ist dieser Staum, Sir?«
Pitt verzog das Gesicht sorgenvoll. »Französischen und deutschen Quellen zufolge soll er einer der berüchtigtsten Attentäter Europas sein. Auch Blantyre schätzt ihn so ein. Er arbeitet für jeden, der ihn bezahlt. Zwar sind das natürlich in erster Linie Anarchisten, doch kann ein Auftrag auch von jedem anderen kommen, der jemanden aus dem Weg geräumt haben möchte und über die nötigen Mittel verfügt. Es heißt, dass man ihn in Dover als Straßenkehrer mit Besen und Karren gesehen hat.«
Stoker machte eine finstere Miene, und Pitt erkannte zum ersten Mal eine leise Furcht in den Augen seines Untergebenen. »Steht fest, dass das Staum war? Woher wollen wir wissen, dass es nicht jemand ist, der ihm ähnlich sieht? Er kann sich unmöglich so sehr von anderen unterscheiden, sonst hätte man ihn ja wohl längst gefasst.«
»Nein, sicher ist das nicht«, gab Pitt unbehaglich zurück. »Aber die Annahme, dass ein solcher Täter einen Bombenanschlag verübt, ist plausibler, als dass er ein Eisenbahnunglück inszeniert, bei dem Dutzende von Menschen umkommen und noch viel mehr verletzt werden.«
»Kommt wahrscheinlich drauf an, was die Leute wollen«, wandte Stoker erbittert ein. »Anarchisten lassen sich gewöhnlich nicht von der Vernunft leiten, sonst ließe sich ihre Handlungsweise nicht so verdammt schwer vorhersehen. Außerdem macht es den Abgebrühtesten unter ihnen nicht mal was aus, gefasst zu werden.«
»Ich weiß. Solche Menschen sind anderen gegenüber immer in gewisser Weise im Vorteil. Aber ich beneide sie nicht. Wer zum Kuckuck möchte nicht etwas haben, wofür zu leben sich lohnt?«
»Ich kann mir das jedenfalls nicht vorstellen.« Betrübt und verwirrt schüttelte Stoker den Kopf.
»Vermutlich fällt es uns deshalb so schwer, sie zu fassen – wir verstehen sie einfach nicht.«
»Und was ist mit dem Herzog, Sir? Glauben Sie, er wird sich an unsere Anweisungen halten? Oder wird er sich lieber wie ein rechter Dummkopf aufführen und aller Welt zeigen, wie tapfer er ist?«
»Das muss sich noch herausstellen«, räumte Pitt ein. »Ich bin nach wie vor dabei, mehr über ihn und seine Männer in Erfahrung zu bringen.«
Stoker fluchte leise vor sich hin.
»Besser hätte ich es auch nicht ausdrücken können«, gab ihm Pitt recht, von Stokers reichhaltigem Repertoire an Kraftausdrücken überrascht.
Stoker errötete.
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