Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
»Entschuldigung, Sir.«
»Schon gut«, sagte Pitt mit knappem Lächeln. »Ich denke ziemlich genauso wie Sie, auch wenn ich es nicht unbedingt in so befriedigender Weise ausdrücke. Ihr Wortschatz legt die Annahme nahe, dass Sie eine Weile bei der Marine waren. Allerdings stand in Ihren Papieren nichts dergleichen – jedenfalls nicht in denen, die Sie mir vorgelegt haben.«
»Nein, Sir.« Stoker fühlte sich unübersehbar unbehaglich. »Es war … nicht ganz offiziell …« Er hielt inne, weil er nicht recht wusste, was er sagen sollte. Auf seinen Wangen lag eine leichte Röte.
»Und haben Sie da etwas gelernt?«, fragte Pitt.
»Ja, Sir, sogar eine ganze Menge.« Er wartete darauf, dass die Befragung weiterging.
»Dann war es wenigstens nicht vergeblich«, gab Pitt zurück. Er nahm sich vor, Narraway eines Tages nach den näheren Umständen zu fragen. Das zu wissen konnte nicht schaden, doch im Augenblick spielte es keine Rolle.
»Sir …«, begann Stoker.
»Ist schon in Ordnung«, schnitt ihm Pitt das Wort ab.
»Sir … ich wollte sagen, dass ich bereit bin, nach Dover zu fahren und Herzog Alois im Zug zu begleiten, wenn das Ihr Wunsch ist.«
»Das brauchen Sie nicht. Es ist gefährlich.«
»Aber Sie fahren doch selbst?«, hielt Stoker dagegen.
»Ja. Gerade deshalb brauche ich Sie hier.«
»Dann komme ich mit, Sir. Die zusätzliche Bezahlung könnte ich gut gebrauchen.«
»Ach ja?«, fragte Pitt, als gehe es lediglich um einige Shilling. »Sparen Sie für etwas?«
»So ist es, Sir.« Stoker richtete sich ein wenig auf. »Ich möchte mir gern ein Cello zulegen, Sir.«
Pitt fiel keine Antwort darauf ein, aber er freute sich über die Maßen.
KAPITEL 8
Narraway saß bei niedrig gedrehtem Gaslicht am Kamin seines Arbeitszimmers und dachte über Serafina Montserrat nach. Pitt hatte ihm gesagt, er habe den Arzt gebeten, für sich zu behalten, dass der Tod mit Sicherheit nicht auf natürliche Weise eingetreten war, und ihm versichert, er selbst, und nicht die Polizei, werde den Fall untersuchen, weil unter Umständen ein Zusammenhang mit einer laufenden Angelegenheit bestehe.
Der angeblich geplante Mordanschlag würde Pitts Aufmerksamkeit vollständig beanspruchen, und so durfte er sich auf keinen Fall durch andere Dinge ablenken lassen. Narraway war nicht sicher, ob es klug gewesen war, dem Arzt mitzuteilen, der Staatsschutz werde der Sache nachgehen. Auch wenn seine detektivischen Fähigkeiten nicht annähernd so ausgeprägt waren wie die Pitts, hielt er eine unmittelbare Verbindung zwischen den Ängsten der alten Frau und dem vorgesehenen Mordanschlag auf Herzog Alois doch durchaus für möglich. In dem Fall musste Pitt unbedingt im Verlauf der nächsten vier oder fünf Tage zu einem Ergebnis kommen, weil es sonst zu spät sein würde.
Sofern Serafina Montserrats Tod tatsächlich einen politischen Hintergrund hatte und darauf zurückging, dass jemand fürchtete, sie sei imstande, einen längst vergessenen Skandal oder eine persönliche Indiskretion zu enthüllen, konnte es sich dabei doch höchstens um Dinge handeln, die längst für alle bedeutungslos geworden waren, außer für jene, die hinter der Tat standen.
Nach allem, was er von Lady Vespasia erfahren hatte, ging er nicht davon aus, dass Nerissa Freemarsh ihre Großtante aus Mitleid getötet hatte.
Aber was war mit der Zofe, Miss Tucker? Ihr war die Tat als Akt des Mitleids seiner Ansicht nach eher zuzutrauen. Sie war ihrer Herrin treu ergeben gewesen, wie Vespasia gesagt hatte. Doch war ihr sicherlich bewusst gewesen, dass sie mit dem Tod ihrer Herrschaft auf jeden Fall ihre Stellung einbüßen würde und dass man in erster Linie sie verdächtigen würde, wenn sich herausstellte, dass deren Tod auf eine Überdosis Opiumtinktur zurückging. Wenn er ehrlich war, glaubte er nicht an ihre Täterschaft.
Dann blieb aber, sofern die Sache keinen politischen Hintergrund hatte, nur noch der äußerst hässliche Verdacht, dass Nerissa Freemarsh ihre Großtante aus persönlichen Motiven umgebracht hatte – zum Beispiel, weil sie das Haus und was noch an Geld vorhanden war, erben wollte, solange sie etwas davon hatte oder bevor alle Barmittel für Serafinas Pflege aufgewendet worden waren.
Ihm würde nichts anderes übrig bleiben, als sämtliche Angehörige des Hauspersonals zu befragen, denn nur sie konnten Antworten auf die schwierigen Fragen wissen, die er stellen musste. Er hob den Blick zur Decke, wo der Schein des Feuers tanzte. So sehr er zu
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