Mord in Dorchester Terrace: Ein Thomas-Pitt-Roman (German Edition)
gewöhnlich greifen nicht einmal Anarchisten so wahllos zu ihren Mitteln, jedenfalls nicht hierzulande.«
»Das ist mir klar.«
»Entweder wird derjenige, auf den man es abgesehen hat, so gut geschützt, dass sich auf keine andere Weise an ihn herankommen lässt – was auf Herzog Alois mit Sicherheit nicht zutrifft –, oder das Ganze ist ein Täuschungsmanöver, mit dem man unsere Aufmerksamkeit ablenken will.« Narraway seufzte. »Ich nehme an, dass man das Attentat ausführen wird, bevor die Delegation den Zug erreicht. Dieser Staum wird den Mann irgendwo auf den Straßen von Dover aus dem Weg räumen. Vermutlich ist ihm nicht bewusst, dass wir Leute haben, die ihn identifizieren können.«
»Wie kommt es, dass Blantyre weiß, wie der Mann aussieht, wir aber nicht?«, fragte Pitt.
»Ich nehme an, dass er das über seine österreichischen Verbindungen erfahren hat«, sagte Narraway. »Staum hat auf dem europäischen Festland eine Reihe von Morden verübt, ist aber hier im Lande, soweit uns bekannt ist, noch nicht in Erscheinung getreten.«
»Blantyre könnte sich irren.«
»Die Möglichkeit besteht natürlich. Sind Sie bereit, es darauf ankommen zu lassen?«
»Nein. Aber wir haben nicht genug Leute, um alle Straßen von Dover zu überwachen, schon gar nicht, wenn das bedeutet, dass wir sie von den Bahnanlagen abziehen müssen.«
»Genau damit dürften die Hintermänner des Anschlags rechnen«, erwiderte Narraway.
»Bei einem Sprengstoffanschlag auf der Hauptstraße von Dover würden Dutzende von Menschen umkommen, ohne dass Herzog Alois zwangsläufig darunter wäre …«
»Die Leute kriegen ihn«, fiel ihm Narraway ins Wort. »Darauf dürfen Sie sich verlassen. Man wird im letzten Augenblick für eine Störung sorgen – ein Wasserrohrbruch, ein umgestürztes Fuhrwerk, irgendetwas, was den Mann zwingt, eine Nebenstraße zu benutzen, sofern seine Kutsche nicht einfach stehen bleibt, bis das Hindernis beseitigt ist. In dem Fall würde er erst recht ein leicht zu treffendes Ziel bieten.« Tiefe Falten gruben sich in Narraways Gesicht, das im Schein des Kaminfeuers geradezu verstört wirkte. »Ihnen bleibt nicht viel Zeit, Pitt. Gerade einmal zwölf Tage.«
»Bitte bleiben Sie unterdessen am Ball, und versuchen Sie weiterhin dahinterzukommen, wer Mrs. Montserrat umgebracht hat und was der Grund dafür war«, drängte Pitt.
»Glauben Sie wirklich, ihr geheimes Wissen könnte mit dieser Sache zusammenhängen?«
»Können Sie mir einen besseren Grund dafür nennen, dass jemand zu so extremen Mitteln greifen will, um Herzog Alois zu töten?«, hielt Pitt dagegen. »Oder jemanden in seinem Gefolge?«
»Ich denke wirklich, dass er nicht das eigentliche Ziel des Anschlags ist.« Narraways Stimme klang matt. Die Anspannung und Besorgnis waren ihr anzuhören. »Der Staatsschutz ist wichtig, Pitt. Mit ihm verteidigen wir unser Land gegen jede Art von Angriff, ob es dabei um lange und sorgfältig geplanten Verrat geht oder um Anschläge von Anarchisten, die mit rascher Hand töten. Falls es meine Absicht wäre, England handlungsunfähig zu machen, würde ich als Allererstes versuchen, den Staatsschutz auszuschalten. Wenn ich auf diesen Gedanken kommen kann, sind andere auch dazu imstande.«
»Das ist mir klar.« Pitt stand langsam auf und merkte überrascht, wie sehr seine Muskeln von der Anspannung schmerzten. »Gleich morgen früh mache ich weiter.«
Gleich zu Beginn des nächsten Vormittags ging Pitt in der Dienststelle in Lisson Grove mit Stoker den Besuch des Herzogs Alois zum wiederholten Male in allen Einzelheiten durch, angefangen von dem Augenblick, da er in Calais den Fuß auf die Dampffähre setzte, bis zu dem Zeitpunkt, da er bei der Rückkehr dasselbe in Dover tun würde.
Zwar war es im Büro warm, da der Kamin gut zog, seit der Regen aufgehört hatte, doch war die Atmosphäre alles andere als behaglich.
»Sein Gefolge besteht lediglich aus vier Personen«, sagte Stoker und wies dabei auf der Karte, die ausgebreitet vor ihnen lag, mit dem Finger auf den Ortsnamen »Calais«.
»Was wissen wir über sie?«, fragte Pitt.
»Sie gehören alle zum Stammpersonal seiner Familie«, gab Stoker zur Antwort. »Jedenfalls geht das aus den Mitteilungen hervor, die wir bekommen haben. Es gibt nicht den geringsten Hinweis darauf, dass einer von ihnen erpressbar, der Spielsucht verfallen wäre oder übermäßige Schulden hätte. Auch pflegt keiner eine Liebesbeziehung zu einer Person mit einem verdächtigen oder
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